Im Inferno zum ersten Mal frei
Geschichte besteht auch immer aus Geschichten, schreibt der Historiker Michael Brenner in einem Nachwort zu dem Buch seiner 1924 geborenen Mutter Henny Brenner Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden.
Dabei betont er, dass trotz der zahlreichen bereits geschilderten und oft schrecklicheren Beispiele, Henny Brenners Schicksal uns zumindest um eine neue Nuance der doch so vielfältig dokumentierten Verfolgungsgeschichten bereichert.
Es sind drei Punkte, die Michael Brenner aus dem Bericht seiner Mutter als besonders bemerkenswert anführt:
Erstes behaupteten viele Menschen nach dem Krieg, von der Tötungsmaschinerie und den Lagern im Osten des Reiches nichts gewusst zu haben. Aber es konnte niemandem entgangen sein, dass Henny Brenner und ihre Mutter drei Jahre lang weder mit der Straßenbahn fahren noch sich auf eine Parkbank setzten durften. Die Schilder »Für Juden verboten« waren sicherlich nicht zu übersehen. Ebenso sichtbar war, dass Henny und ihre Mutter als Ausgegrenzte mit einem gelben Stern durch Dresden laufen und Zwangsarbeit leisten mussten. Nur weil der Vater Max Wolf nichtjüdisch war und er mit seiner jüdischen Frau Rebecca eine sogenannte Mischehe führte, musste er keinen Judenstern tragen.
Sein zweiter Punkt ist meiner Meinung nach der wichtigste, weil er zeigt, dass ein Ereignis immer mehrere Seiten hat. Die Bombardierung Dresdens, durch die, wie Iring Fetscher in einem Vorwort schreibt, 35.000 Menschen starben, hat Henny Brenner und ihrer Mutter das Leben gerettet. Denn sie sollten am 16. Februar 1945 zu einem »Auswärtigen Arbeitseinsatz« deportiert werden und allen war klar, dass dies nur eine Sprachregelung war, die man mit »KZ« übersetzten musste. Sie beschlossen, diese Aufforderung nicht zu befolgen, rissen sich den gelben Stern von den Kleidern und tauchten unter.
Mein Vater sagte damals, halb im Ernst, halb im Spaß: »Das einzige, das uns retten kann, ist ein Angriff auf Dresden.
Als dieser Angriff in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar in Form verheerender Bomben tatsächlich kam, verbrannten auch Unterlagen der Gestapo und im Chaos dieser Nacht konnte Familie Brenner fliehen. Wie einige der etwa hundertsiebzig Dresdner Juden, allerdings sind auch viele verbrannt.
Für uns war es bereits seit zwölf Jahren Nacht, und zum ersten Mal sahen wir nun, inmitten des ungeheuerlichen Leids und Elends, den Tag heranbrechen. Wie alle in jenen Stunden dachte ich: Das ist Dantes Inferno auf Erden. Und doch wusste ich: Nur durch dieses Inferno können wir uns retten. Während die ganze Stadt weinte, jubelten wir. Auch unser Haus war ausgebombt, auch wir fürchteten, von Flammen eingeschlossen zu werden, auch wir erstarrten innerlich angesichts der verkohlten Leichenberge am Wegrand. Und dennoch: zum ersten Mal seit Jahren waren wir frei.
Das Buch mit ihrer Lebensgeschichte ist ursprünglich aus Berichten entstanden, die Henny Brenner, geborene Wolf, auch noch in hohem Alter in Schulen erzählt. Und der Alltag einer ursprünglich wohlhabenden jüdischen Familie mit Dienstmädchen, Waschfrau und vielen Verwandten ist nicht nur für Jugendliche interessant. Henny Brenner verbrachte anfangs eine sorgenfreie Kindheit. Ihre Großeltern, die 1892 nach der Ermordung des Zaren Alexander II wegen antijüdischer Pogrome aus Russland nach Dresden geflohen waren, hatten es als eine »bekowete« (ehrbare) Familie mit einer kleinen Tabakfabrik zu etwas gebracht. Es gab ein gastfreundliches Haus mit koscherer Küche.
Mit acht Jahren war es mit der Unbeschwertheit des Kindes vorbei. Die Nazis kamen an die Macht und Henny Brenner erlebte mit ihrer Familie die zunehmenden Einschränkungen in allen Lebensbereichen. Wie alle Bewohner Dresdens bekamen auch Henny und ihre Mutter Lebensmittelkarten. Allerdings waren die meisten mit einem schräg über die Karten aufgedruckten Schriftzug »Jude« entwertet.
In diesem Zusammenhang gibt Henny Brenner ein weiteres Beispiel für die wahnwitzige Genauigkeit der Deutschen, wenn es darum ging, jüdische Menschen zu entrechten:
Hierfür gab es eine spezielle Maschine, die in Leipzig stand und nur Lebensmittelkarten von Juden in Sachsen entwertete. Den Nazis waren keine Mühen und kein Verwaltungsaufwand zu viel. Von den entwerteten Lebensmittelkarten bekamen wir nur sehr wenige Lebensmittel, zum Beispiel dunkles Mehl.
Der Vater erhielt normale Lebensmittelkarten, aber die waren für die dreiköpfige Familie natürlich viel zu wenig.
Max Wolf war zwar für die Familie eine vage Lebensversicherung, unterlag aber selbst großen Repressionen. Um noch einmal aus Iring Fetschers Vorwort zu zitieren:
Wie in allen »Mischehen« hing das Schicksal des jüdischen Elternteils wie der Kinder davon ab, daß der nichtjüdische Partner treu zu seinem Gatten / seiner Gattin stand und am Leben blieb… Bei dem Partner und am Leben zu bleiben war für das Schicksal solcher Familien die Voraussetzung für das (wahrscheinliche) Überleben.
Max Wolf war Besitzer des gutgehenden Kinos »Palast-Theater«. Ein Foto in dem Buch zeigt das Kino mit der Reklame für den Film »Das Lied ist aus«, das Henny Brenners Bericht den Titel gab. Weil der Vater sich trotz Aufforderung des Reichspropagandaministeriums nicht von seiner Frau trennte, wurde ihm das Kino weggenommen. Als weitere Repressalie sollte er als Strafe zum Arbeitseinsatz der berüchtigten Organisation Todt einberufen werden. Hier kommt nun der oben zitierte Iring Fetscher ins Spiel, beziehungsweise dessen Vater, der als Arzt (und Antifaschist) Max Wolf vor diesem lebensgefährlichen Schicksal auf Grund eines medizinischen Gutachtens bewahrte.
Bleibt noch der dritte eingangs erwähnenswerte Punkt, den Michael Brenner in seinem Nachwort anführt. Weil die Brenners bald merkten, dass es auch in der DDR und anderswo im sogenannten Ostblock antisemitische Hetze gab – Henny Brenner führt als Beispiel den Slánský-Prozess in der Tschechoslowakei an – brachen sie 1952 erneut ihre gerade aufgebauten Zelte ab und flohen in den Westen. Und doch, schreibt Michael Brenner:
Ein dritter Aspekt darf schließlich nicht unerwähnt bleiben. Es betrifft das hier geschilderte Leben unter zwei Diktaturen. Die Rote Armee Stalins war – und dies muss unverblümt gesagt werden – für die Opfer des Naziterrors zunächst der Befreier.
Henny Brenner ist eine der letzten Zeitzeuginnen. Schon das ist ein Grund, ihre authentische Stimme zu hören. Und wie ihr Sohn, der Historiker, richtig meint, besteht Geschichte auch immer aus Geschichten. Jede einzelne kann uns Neues erzählen.
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