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Kritik

Burroughs ein Dichter & Visionär im Sinne Rimbauds

Hamburg

Der Titel dieses Buches ist die direkte Übersetzung eines Ausspruchs von Allen Ginsberg, einem engen Freund von William S. Burroughs, den er in einem Interview mit Thomas Clark 1966 gesagt hat: "Burroughs is a poet too, really. In the sense that a page of his prose is as dense with imagery as anything in St. Perse or Rimbaud, now. And it has also great repeated rhythms. Recurrent, recurrent rhythms, even rhyme occasionally!" (siehe: The Paris Review Interviews. Beat Writers at Work). Und Ginsberg sollte das schon wissen, war er doch zeitweise der bekannteste amerikanische Dichter gewesen.

Oliver Harris bemängelt, dass die Literaturkritik bisher immer einen großen Bogen um die erste Cut-up-Veröffentlichung überhaupt gemacht hat, nämlich Minutes to Go, die Burroughs zusammen mit seinen Kompagnons Brion Gysin, Gregory Corso und Sinclair Beiles herausgegeben hat. Das 64 Seiten schmale Buch ist 1960 in Paris in einer Auflage von 1000 Stück erschienen. Zu dieser Zeit lebten die vier Autoren im legendären Beat Hotel in Paris, und hier hatte ja Brion Gysin 1959 auch die Cut-up-Methode entdeckt. Harris bezeichnet dabei Minutes to Go als das eigentliche Manifest und Handbuch der Cut-up-Methode. Noch relativ bekannt sind die Cut-up-Romane von Burroughs, also The Soft Machine, The Ticket That Exploded und Nova Express, aber das sind alles Prosatexte. Von dieser Seite betrachtet macht es Sinn, dass Harris jetzt genau diesen oben zitierten Ausspruch von Ginsberg auf 11 Textbeiträge von Burroughs in Minutes to Go angewendet hat, die auch in ihrer Form als Gedicht erkennbar sind (seine vier weiteren Beiträge sind Prosatexte). Angereichert ist diese Auswahl mit sieben weiteren Cut-up-Gedichten von Burroughs aus späteren Jahren. Es macht auch Sinn, dass hier nicht der Versuch unternommen worden ist, diese Cut-up-Gedichte zu übersetzen, weil dadurch zu viel auf der Strecke bleiben würde. Das bedingt aber auch, dass ein deutscher Leser schon relativ sehr gut Englisch beherrschen sollte. Seine Ausführungen hat Harris in einem Essay zusammengefasst, wobei dieses im Buch sowohl in Englisch als auch in Deutsch abgedruckt ist.

Dieser Versuch von Harris, kurze Cut-up-Texte von Burroughs als Gedichte zu interpretieren, ist natürlich schon etwas gewagt. Harris: "Das Strophen-Layout scheint eine poetische Absicht zu implizieren". Burroughs muss mit einer beinahe wissenschaftlichen Akribie an diesen Texten gearbeitet haben. Und für acht dieser Texte hat er sogar populärwissenschaftliche Artikel über "die neuesten Entwicklungen bei der Krebs-, Gen- und Virusforschung" verwendet. Umso erstaunlicher "dass Burroughs wissenschaftliche Ergebnisse aus künstlerischen Absichten erzielte, aber auch, dass 'seine wissenschaftliche Vorgehensweise zu außergewöhnlichen künstlerischen Resultaten' führte."

Harris hebt dabei mehrfach hervor, dass es sich bei der Cut-up-Technik um eine experimentelle Methode handelt, wobei die Ergebnisse unberechenbar und vorher unbekannt sind. Burroughs ist dabei strategisch vorgegangen. Harris grenzt dabei die Cut-up-Technik ganz bewusst von Tristan Tzara ab, der spontan Gedichte kreierte, indem er Wörter aus dem Hut zog, und dies als "Übung in Negativität [...] eine Art dadaistischer Zerstörung" sah. Dabei hat Burroughs sogar selbst in späteren Aussagen diesen Vergleich evoziert.

Harris geht ebenfalls auf Arthur Rimbaud ein, da zwei der Cut-up-Gedichte in Minutes to Go das Gedicht "A une raison" aus Les Illuminations als Schnittvorlage diente. Dadurch "gestattet uns Burroughs [...] das Original im Licht eines neuen Kontexts zu lesen". Gegenübergestellt wird dabei "Rimbauds revolutionäre[r] Aufruf zur Abschaffung der Vernunft und zur Flucht aus der Zeit durch Zerstörung des 'Schwindels' der Sprache" mit Burroughs' Statement "die Wortzeilen halten dich in der Zeit gefangen [...] zerschneide die Zeilen" aus dem Buch The Third Mind. Harris bringt dabei die Cut-ups sogar in Beziehung zu Rimbauds Definition von Poesie, die er in seinen sogenannten Seher-Briefen dargelegt hat. Damit sieht Harris Burroughs viel näher an Rimbaud als an Tzara.

Ein Reiz der Cut-up-Technik liegt darin, aus Texten verborgene Botschaften entdecken zu können. Wenn sie beim Leser dann noch ein plastisches Bild hervorrufen, dann sind ihre Ergebnisse durchaus für Gedichte geeignet. Zwei Beispiele hierfür: "breed could land by killing or weakening cancer anti-bodies on a foam runaway would still retain adaption to African way of life" und "memory died when their photos weather [...] blue stars erect boys of sleep have frozen dreams for I am a teenager".

Burroughs hat sich ja nicht gescheut, Textelemente aus unterschiedlichen Quellen zu verbinden und einander gegenüberzustellen. Auch hat er sie teils anderweitig weiterverwendet. Harris schreibt dazu in seinem Essay: "Diese Haltung deutet sich in Burroughs außergewöhnlichem Text 'REACTIVE AGENT TAPE CUT BY LEE THE AGENT IN INTERZONE' bereits an. Quellen werden nicht genannt, doch wenn man mit Burroughs' Werk vertraut ist, erkennt man Zeilen aus The Naked Lunch und anderen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht verlegten Texten wieder, Manuskripten, die zerschnitten wurden, um eine Collage aus Phrasen und Bildern herzustellen". Leider ist dieser Text gar nicht in das vorliegende Buch übernommen worden. Er steht zwar in Minutes to Go, aber da es sich dabei um einen dreiseitigen Prosatext handelt, also kein Gedicht, wurde er konsequenterweise auch nicht in die Auswahl von 17 Cut-up-Gedichten mit aufgenommen.

Diese Vorgehensweise von Burroughs kann man allerdings auch an dem Cut-up-Gedicht "MAO TZE: TA TA KAN KAN....KAN KAN TA TA" nachvollziehen. In ihm kommen folgende Satzteile jeweils mehrfach vor: "shift lingual", "free doorways" und "vibrate tourists". Sie haben später Eingang gefunden in dem Schlachtruf, den Burroughs im Kapitel "Towers Open Fire" in seinem Cut-up-Roman Nova Express (von 1964) hinaus posaunt: "This is war to extermination - Shift linguals - Cut word lines - Vibrate tourists - Free doorways - Photo falling - Word falling - Break through in grey room - Calling Partisans of all nations - Towers, open fire -". Das ist sein Ansturm auf die Zitadellen der Aufklärung: "Storming the citadels of enlightening".

Auch die Zeile "Will Hollywood never learn?" aus dem Cut-up-Gedicht "FROM SAN DIEGO UP TO MAINE" hat als weiteres Beispiel Eingang in Nova Express gefunden, sie dient dort sogar als Kapitel-Überschrift.

Das vorliegende dünne Buch behandelt schon ein recht spezielles literarisches Thema. Es wird deshalb wohl auch nur von entsprechend interessierten Leuten gelesen werden.

Oliver Harris · William S. Burroughs
Die Poetik of Minutes to Go.
Burroughs is a poet too, really. The Poetics of Minutes to Go. Essay Deutsch/Englisch. Plus 17 Poems by William S. Burroughs. & Permutations & Interferences’ by Robert Schalinskí
Gestaltung & Permutation. Robert Schalinski
Moloko Print
2017 · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-943603-05-7

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