Jenseits von Not und Chose
Ja, die kleinen Lügengeschichten, an die wir selbst uns irgendwann klammern als seien sie echt; unsere fünf Minuten Ruhm mit wahrem Kern, den man aber im aufgezüchteten Fruchtfleisch der Ausschmückung gar nicht mehr findet. Aber Geschichten müssen ja saftig, glorreich sein. Be something or be quiet, so geht es ja in mancher Hinsicht heute zu. Das erfährt auch Hildegard in der Erzählung von Susanne Neuffer. Unvorsichtig hat sie sich in eine ihre Lieblingsgeschichten hineingesteigert, laut der sie einmal in Montreal im Chor eines berühmten Popsängers mitgesungen hat. Der Mann der Protagonistin rückt ihr daraufhin mit unbequemen Fragen zu Leibe. Lügen und Lügenlassen? Sind uns allen nicht schon Geschichten über den Kopf gewachsen? Neuffers Text fängt die Bredouille gut ein.
Mit vierzehn hielt ich den Zweiten Weltkrieg für die Sache der buckligen Verwandtschaft, ich selbst schaute wie besessen auf den Dritten, fürchtete statt fallender Bomben startende Raketen. Und „Die Klapperschlange“ führte mir diese Visionen genüsslich vor: war ab sechzehn, spielte sechzehn Jahre in der Zukunft, wusste Bescheid. […] Genauso wird’s kommen, Junge, kannst nix dagegen machen.
Es fängt ganz harmlos an: zwei Jungen sind mit dem Fahrrad 6 km weit gefahren, um den neusten Hollywood-Blockbuster in einem kleinen Kino in Pinneberg (nähe Hamburg) zu sehen, während die Eltern die totkranke Großmutter besuchen. Doch dann ist der Film ab sechzehn - eine mythische Schwelle, die eigentlich nicht übertreten werden kann. Sie kommen trotzdem rein und sehen „Die Klapperschlange“, John Carpenters Antiheldenfilm mit Cyberpunk-Image. Gekonnt verschmilzt Marcus Jensen die Eindrücke und Szenen des Films mit der Geschichte der Großmutter, die stirbt während die Jungs in den Kinosesseln sitzen. Schon über lange Zeit fristete sie ein freudloses, dunkles Dasein – und auch die apokalyptische Welt in Carpenters Film im fiktiven Jahr 1997, in der Snake den US-Präsidenten retten soll und dabei die anarchische und verwahrloste Welt der Gefängnisinsel Manhattan betritt, scheint in eine diffuse Dunkelheit gehüllt zu sein. Ein großartig montierter Text, der einen tatsächlich packt, vor allem weil er nahtlos von der einen Geschichte in die andere wechselt.
längst gehört dir das erzählt, also hör gut zu, siebentausend Jahre ist es her, da ist hier etwas ganz Gewaltsames passiert
So beginnt Lydia Haiders Erzählung über den Unort, einen Ort der Gewalt; eine schauderhafte Erzählung von Grauen, greifbar und doch nebulös, schemenhaft und bombastisch zugleich. Schon dieser Anfang, auf den ein schier endloser Fluss an Sätzen folgt (eine Tirade beinah), führt eine Stimme ein, so bezwingend, so weich aber auch, man hat sie sofort im Ohr. Und schon ist man eingeschlossen in der Geschichte, aber auch ausgespien, in sie hinein. Ein starker Text – der nicht so endet, wie man es erwarten würde. Am Ende ist es vor allem der Witz, der diabolisch ist. Cool!
Harten Tobak serviert uns Peter Zimmermann mit „Der Metzger“, ein eher reißerisches Werk, immerhin spannend.
Eine wahnwitzige Posse über die Tasse Wasser, die einem im Alter ja wohl zusteht – am besten von wohlgeratenen Kindern überbracht – hat Pyotr Magnus Nedov verfasst. Nach der ersten Seite weiß man, wie die Geschichte fortlaufen und wie sie enden wird und der Witz bleibt auf der Strecke.
Zusammensein, das hieße im Anderen sich immer wieder selbst begegnen. Wir sehen uns einmal im Jahr, vielleicht zweimal. Träumen schon nächtelang voneinander. Es ist die erdige Dunkelheit einer Geburt, die uns verbindet. Tragen nebelfrühen Mischwald auf den Augen. Unser Umgang ein Kult: Rituale der Erinnerung. Fast mechanische Schutzzauber, wenn wir reden, beenden wir uns gegenseitig die Sätze. Es gibt nur eine Art des Sprechens: sie ist schwer und alle Worte sinkende Steine im Fluss.
Wie eine schlafende Sprache, die gewaltig träumt. Die drei Prosaminiaturen von Manon Hopf sind eine eindrucksvolle Lektüre. Ihre Sätze sinken sehr tief - eine einwickelnde und zugleich sprengende Erfahrung.
Wieder mal eine Geschichte über einen Anführer-Typen, einen Glänzenden inmitten von Gewöhnlichen; kann alle Frauen haben und wenn er etwas nicht haben kann, dann ist der sofort wütend, beleidigt, stinkig. Aber man lässt dem Boss natürlich alles durchgehen, Captain Ahab hat man ja auch nicht über Bord geschmissen. Roman Kaiser-Mühleckers Story über Jimmy und seine Kumpels ist im Großen und Ganzen ziemlich zäh und klischeebeladen und drückt sich hier wie dort um eindeutigere Kontraste und breitere Schilderungen herum. Sehr gut gelungen ist die Beschreibung einer Frauenfigur, die sich wundert, was die Männer eigentlich von ihr wollen. Ansonsten eher fad.
Geschichten über Sehnsucht kann man sich schwer entziehen. Und David Blum beginnt seine Erzählung „Nadine, deine Narben“ sehr geschickt; so geschickt, dass ich es erst bemerke, als ich nach dem Ende noch mal nach vorne blättere und mir wieder einfällt, mit welchem Satz der Text begann. Dieser erste Satz fällt wie Licht durch das gluckernde bis stille Gefühl der Sehnsucht, das zwischen allen Sätzen schwebt. Ein einfacher Text, aber mit jener Präsenz aufgeladen, die man zu kennen glaubt; die eintritt, wenn einem plötzlich bewusst wird, dass man sich in vielen Momenten des Tages mehr in Erinnerungen bewegt als in der Gegenwart. Wir laufen immer von neuem auf den Punkt zu, an dem wir gerade sind.
Wer es sich leisten kann, führt ein Mädchen
zu McDonald aus, oder zum Subway.
Ob auf Straßen oder Feldern, auf dem
Bischofsberg, im Kiesbett des Pruth, überall
riecht es nach Sperma, süße Fäulnis, die Verlangen
weckt, und Kopfweh bereitet.
„Ukrainisches Album“ von Gabriel Wolkenfeld: offenbar eine ziemlich umfassende, lyrische Durchstreifung des Landes. Schon in den hier enthaltenen Auszügen werden die ländlichen Gegenden, aber ebenso Kiew und Babyn Jar – die Schlucht, in der eine der größten Massenhinrichtungen von Jüdinnen und Juden während des 2. Weltkriegs stattfand – und auch Odessa eingefangen, atmosphärisch abgebildet. Auf den vollständigen Gedichtband/-zyklus darf man sich freuen!
Luka Leben, von der ich letztens schon einen tollen Text in der Literaturzeitschrift „konzepte“ lesen durfte, hat einen Text über eine blinde Frau geschrieben; ihr gelingt eine markante Schilderungen dieser Beeinträchtigung (trotzdem bleibt natürlich die Frage offen, inwieweit sie im Vorhinein mit blinden Personen Umgang hatte und wieviel von der Schilderung sie ihrer Vorstellung entnommen hat).
„Im Hirneis radeln mit rostigen Knien“ heißt der Text. Greta Lauers Prosa hat diese Fähigkeit, diese Eigenschaft: sie reißt dich auf und wühlt in dir. Sie knackt Eis in deinem Körper, an Stellen, an denen du dich und deine Wahrnehmung für flüssig hieltest; alles gut, alles fließt. Und jetzt merkst du, dass dort und an vielen anderen Stellen alles geronnen war, verklebt, verstockt, verschmiert. Sprachgewaltig und un schon über Dinge hinaus, so wirkt diese Prosa.
„Mein Vater muss gefeiert werden. Sie wollen, dass ich komme.“
„Dann komme ich mit“, sagte mein Geliebter.
Erschrocken sah ich ihn an. „Aber du bist doch aus Zucker!“, rief ich. „Du besitzt keine Schießscharten, keine Zugbrücke, kein Visier. Außerdem steht mein Vater jeden Abend mit dem Fernrohr am Fenster und lacht über Gott.“
Ein netter kleiner Irrwitz, den Signe Ibbeken da entfesselt. Streckenweise ist mir die Farce zu albern, trotzdem kann sie mit allerlei vergnüglichen Ideen aufwarten. Funken sprühen, Sprache prasselt, Sinn verraucht.
: so streichen wir / als halbe Schatten – /
: durch das Zwielicht – / (: das uns nochmals teilt – ) /
: durch das Glück – / : das wir einst hatten – /
: sind wir blind / hindurchgeeilt – /
Ich bin jetzt schon öfter auf die Gedichte von Sebastian Hage-Packhäuser gestoßen und habe mich bisher aufgrund der sperrigen und anscheinend rein manieristisch angelegten Interpunktionskorsage nie wirklich auf sie eingelassen. Ich war jetzt beim Lesen erstaunt, dass sie teilweise sehr stimmige Bilder und Wendungen enthalten und eine vertiefende Art, die einem metaphysisch veranlagten Leser wie mir durchaus zusagt. Trotzdem: die Interpunktion kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen und sie wirkt auf mich wie eine ziemlich ungenießbare Attitüde.
Fazit: Die Nr. 54 der erostepost kann mit einer beachtlichen Anzahl an gelungenen Erzähltexten aufwarten; inwiefern diese dem Motto des Heftes – „Jenseits von Gut und Böse“ – gerecht werden, lässt sich schwer beurteilen; mir persönlich wäre jetzt kein roter Faden aufgefallen. In Sachen Lyrik ist das Heft ziemlich unterbesetzt. Klar, man kann nur veröffentlichen, was eingesendet wird, trotzdem fällt dieser Mangel auf. Eine Anschaffung lohnt sich aber dennoch!
Anmerkung der Redaktion: Alle beteiligte Autor_innen, zu denen wir einen sinnvollen Pfad gefunden haben, sind verlinkt.
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