Snæfellsjökull
Bei Lyrik scheiden sich bekanntlich die Geister. Während sie von einigen als verkopfte Zeilenquirbelei abgetan und kaum beachtet wird, gilt sie manchem nach wie vor als höchste literarische Form. Lässt man nun die kategorischen Lyrik-Ver(s)schmäher außer Acht, so gibt es auch bei den bekennenden Freunden des Gedichts spezielle Neigungen: Mancher hegt eine Sympathie für Themenbände, andere bevorzugen eine möglichst große Bandbreite an Themen innerhalb eines Lyrikbandes.
Als diesbezügliches Zwitterwesen präsentiert sich der 2003 erschienene und in vier sinfonische Sätze (Kapitel) gegliederte Gedichtband „Eiswolken. Moos. Sieben.“ von Ralf Harner. Im ersten Kapitel (Allegretto) vereint Harner Gedichte über Island („Die Stille buchstabieren“ – ein isländischer Zyklus), während sich Prolog und Epilog der sibirischen Taiga widmen. Es sind Gedichte, die Reiseeindrücke mit der Geschichte und Mystik Islands verschmelzen, Gedichte, die in mir eine unheimliche Lust erzeugen, diesem nördlichen Inselstaat und seinen Menschen einen Besuch abzustatten. Das erste Kapitel endet mit 4 Gedichten in russischer Sprache, die jedoch im umfangreichen Glossar (das Erklärungen und Übersetzungen zu jedem unbekannten Wort sowie zu erwähnten Namen bietet) übersetzt wiedergegeben werden. Der zweite Abschnitt „Und weint ganz leis um dich“ (Moderato) ist mit der Unterzeile „Widmungen“ versehen. Ralf Harner sucht und findet persönliche Bezüge, lässt dem 1938 verstorbenen russischen Dichter Ossip Mandelstam postum eine Antwort auf eines seiner Gedichte zukommen oder bezieht seine Zeilen auf ein Werk der Komponistin Sofia Gubaidulina. „Bis Schatten aus den Worten brechen“ (Adagio), das dritte Kapitel, präsentiert mit seiner bunten Mischung verschiedenster Themen eine Tüte mit lyrischem Studentenfutter. Im letzten Kapitel schließlich („das Vermächtnis des Quetzalcoatl“, Allegro non troppo) herrscht die Ernsthaftigkeit vor, ballen sich Kriegsvokabeln und der Zweifel an die Menschheit, was sich am Beispiel des Gedichtes „Erster Frost“ so liest: Im Gleichjahr unsrer Stadt / ist irgendwann / ein kleiner Blutfleck / erfrorn. // Der geschwätzige Friedhof / hat’s gleich dem Bauamt gesteckt. // Wie nur durfte das geschehn?
Ein vielschichtiger und abwechslungsreicher, dennoch ein überraschend homogener Gedichtband (trotz der Tatsache, dass sich die Gedichte dieses Bandes nicht nur thematisch, sondern auch in ihrer Darreichungsform stark unterscheiden – das geht vom Vierzeiler bis hin zu einem Mammutsatz im Monologstil, der sich über mehrere Seiten zieht). Und es sind vor allem Kleinigkeiten, Zeilen wie Tinte trocknet im Schnee, die diesen Gedichtband lesenswert machen. Dass Ralf Harner zudem das lyrische Handwerkszeug nicht nur besitzt sondern auch anzuwenden weiß, beweist er mittels Schweifreim, stimmigen Alliterationen und anderer Reimschemata (bis hin zum Sonett) quasi nebenbei.
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