Der Schöpfer, der dem Herrn gehorchen muss
Jörg Krippen, Berliner Literaturwissenschaftler mit linker Vergangenheit, der über Mary Shelleys "Frankenstein" promoviert hat, soll für einige Monate ein Seminar in London übernehmen. Die indischstämmige Reproduktionswissenschaftlerin Mae, eine vermeintliche Zufallsbekanntschaft, erweist sich als geheimnisvolle Verführerin, die auffällig viel von Krippen zu wissen scheint. Der haust zunächst im Eastend in einem winzigen Zimmer, sonst fast ohne soziale Kontakte. Das Verhältnis mit Mae führt dazu, dass er das Seminar vernachlässigt und gefeuert wird, seine zänkische Frau Sabrina und sein pubertierender Sohn Leon in Berlin, die Krippen vor Mae verschwiegen hat, sind "not amused". Dem verkrachten Theaterautor erschließt sich nach und nach die Tatsache, dass er mit Maes älterer Schwester Arundhati einen elf Jahre alten Sohn namens Raji hat, der anscheinend die Frucht einer Affäre während eines Workshop-Aufenthaltes in London ist, natürlich zu einem Zeitpunkt, zu dem Krippen bereits in Berlin Familie hat. Während Arundhati damals zurückblieb, ein offenbar wildes Leben mit Drogen und Liebhabern in der Londoner Künstlerszene lebte und keinen Kontakt mehr zu Krippen hatte, pflegte ihre kleine Schwester Mae, damals erst vierzehn, den sterbenden Vater und ging anschließend für einige Jahre nach Berlin, wo sich ein Onkel um ihre weitere Erziehung kümmerte. Mae forschte dort nach Krippen, belauerte ihn regelrecht, gab sich ihm jedoch nicht zu erkennen und verschwieg auch ihrer Schwester ihre Erkenntnisse um Krippens familiäre Verhältnisse.
Ihr Cousin Kali bietet Krippen nach dessen Rauswurf aus dem Seminar einen finanziell lukrativen Job als Kulturjournalist an. Krippen glaubt indes, einer Verschwörung gegen ihn aufgesessen zu sein, denn Kali scheint Arundhati seinerzeit im Drogenrausch vergewaltigt zu haben und könnte also gleichfalls Rajis Vater sein. Mae führt in ihrem Institut Gentests durch und behauptet festgestellt zu haben, das Raji tatsächlich Krippens Sohn, Leon in Berlin jedoch nicht sein Kind sei. Krippen kehrt nach Intermezzi in den USA und Dresden schließlich nach Berlin zurück. Obwohl seine finanzielle Situation prekär und seine Ehe gescheitert ist, Arundhati Vergangenheit bleibt und sich die Beziehung zu Mae problematisch gestaltet, nimmt Krippen schließlich die Verantwortung für beide Söhne, Leon und Raji, an.
Was sich in dieser kurzen Zusammenfassung wie ein schlecht gezimmerter Kolportageroman ausnimmt, ist in Wahrheit ein fein gesponnenes Werk über die Zufälligkeiten individueller Lebenswege. Das Was spielt in "Das Singen der Sirenen" nicht unbedingt die Hauptrolle, das Wie ist entscheidender, deshalb kann man das Gerüst der Story mitsamt ihrem Ende ohne Genussverlust für den Leser preisgeben.
In Rückblicken erfährt die Leserschaft von den wilden Zeiten Krippens und seiner späteren Frau Sabrina in der Berliner Antifa-Szene, von kriegsähnlich geplanten Schlachten gegen die Neonazis und den schwierigen Weg der beiden in so etwas wie ein halbwegs geregeltes bürgerliches Leben (merkwürdig, dass dies bei aller verbalen Ablehnung und Verächtlichmachung offenbar immer wieder genau das Ziel der Protagonisten zu sein scheint). Vor allem diese Abschnitte sind es jedoch, die dem Roman eine hinreichende Authentizität verleihen, die durch intensive erzählerische Dichte und die an den Szenejargon angelehnten Dialoge entstehen.
Michael Wildenhains neuer Roman hätte stofflich durchaus das Zeug dazu haben können, an die Thematik seines letzten Buches, "Das Lächeln der Alligatoren" anzuknüpfen, welches sich mit der Problematik von künstlicher Intelligenz beschäftigte. Doch ging es ihm darum offenbar gerade nicht. Der als unnatürlich stark behaart geschilderte Cousin Kali, ein Journalist, der sich nach Rajis Geburt und Arundhatis angedeutetem Absturz in Verwirrung und Hilflosigkeit und ihre spätere Hinwendung zur Hindu-Religiosität um sie kümmert, löst zwar Assoziationen zu der immer wieder aufgerufenen unterschwelligen Frankenstein-Metaphorik aus, deren strukturelle Notwendigkeit für den Text jedoch an keiner Stelle der Handlung wirklich eingelöst wird - da hilft auch das immer wieder mantraartig eingestreute Zitat aus Shelleys Frankenstein nicht weiter: "Du bist mein Schöpfer, aber ich bin dein Herr, gehorche." Dies könnte die Figur Jörg Krippens allenfalls auf sich selbst als Schöpfer seines unvollendeten Werkes beziehen, ist er doch schon längst als einst hoffnungsvoller Jungdramatiker gescheitert; doch Wildenhain deutet auch diese Möglichkeit nur flüchtig an. Nicht zuletzt ist der Verweis des Verlages im Klappentext auf die vermeintliche Reflexion des Romans über das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften ziemlich an den Haaren herbeigezogen; auch dieser mögliche Bezug wird in wenigen Absätzen angerissen und nicht wirklich weiterverfolgt. Die Frage nach einerseits genetischer und andererseits sozialer Verantwortung für Nachkommenschaft wird ebenfalls nur gestreift. Viel Angetäuschtes also, Fragmentarisches - vielleicht als literarische Entsprechung zu den auf der Strecke gebliebenen Lebensvorstellungen der Figuren?
So bleibt der Roman vor allem eine ungewöhnliche, von Bitternis und Enttäuschung, aber auch krachender Leidenschaft durchzogene Love Story, die in vielen zeitlichen Rück- und Vorblenden alle Finessen aktueller Erzähltechniken durchexerziert, dadurch einen seltsam schwebenden Zustand erzeugt, eine Art literarischen 3-D-Effekt, in der Wildenhains Leserschaft sich in dessen wildem Plot wiederfindet. Hier erweist sich der Autor einmal mehr als geschickter Sprachdirigent im wort- und gestenreichen Konzert des Emotionalen. "Das Singen der Sirenen" dürfte ihm in dieser Hinsicht kaum ein "Du bist mein Schöpfer, aber ich bin dein Herr, gehorche" zurufen.
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