Lethe, gebaut
Nach Neufundland aus dem Jahr 2012 legt Barbara Köhler einen neuen Band in der Edition Korrespondenzen vor. Er heißt 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss. Eine Sammlung von in situ Notaten, Beobachtungen, Prosagedichten, die Köhler auf Einladung der Rotterdamer Künstlergruppe OBSERVATORIUM in Castrop-Rauxel verbracht hat, als "Schmuckeremit" einer Architekturinstallation namens Warten auf den Fluss. Sie bewohnte im Sommer 2016 jene dreiräumige Verbindungsbrücke auf einem Stück Brachland der Emscherinsel, die einen Teil des Projektes zur Renaturierung von Deutschlands einstmals dreckigsten und dysnatürlichsten Fluss überhaupt, der Emscher, ausbildet. Als Bewohnerin dieser Rauminstallation irgendwo zwischen Pavillon, Environment und Ortsbesetzung erlebt Köhler Durchzügler, Wanderer und Kunstbesucher. Deren Internationalität in typisch ruhrgebietlerischler Sprachvermengung aus Niederländisch, Englisch, Französisch und natürlich Ruhrsprech nutzt die Duisburgerin Köhler, um in "44 Neunzeilern (mit je 62 Zeichen pro Zeile)" das Warten zu betrachten. Warten auf diesen neuen, alten Fluss, diese gelittene formlose Masse namens Emscher, die wie das Ruhrgebiet selbst zwischen Natur, Raub, Zerstörung, Tod, Dreck, Begradigung, Umzug und Verlassenheit und eben Wiedereroberung durch diese Natur (künstlich initiiert) wandelt. Ein eigentümlicher Zustand, eine Brache des Seins. Barbara Köhler findet Worte für dieses Zwischen, diese Irritation großer Fläche, die poetisch, anekdotisch und dahergesagt sein können, stets im Wechselbad, doch durch die selbstauferlegte Textregel der 44/9/62 eine hohe formale Strenge gestalterisch aufweisen. Köhler schreibt dicht, atmosphärisch, tastend und das Buchlayout unterstützt die beinahe kunstkatalogische Präsentation der dichtenden Installation aus Raum und Dichterin mit Stift. Durchsetzt mit einseitigen Wortwerken in Dicktype wie "HIER - HERE - ICI - HIER" finden sich zwischen den 44 Notaten in Schreibmaschinentype, Karten als Schwarzpläne mit sachten blauen Adern (die Wasser des Ruhrgebiets) und Strichgrafiken mit Perspektiven der Rauminstallation von OBSERVATORIUM. Das Buch ist gestalterisch ein Highlight und Köhlers Texte nicht weniger. Behutsam aufbauend, retournierend schreibt sie:
"Ließe sich von RUHRGEBIET reden, ohne dass da Schwarzweißbilder
mit den Vorstellungen eines vergangenen Jahrhunderts entstehen?
Fast blickdichte Rußfilter, durch die die Gegend trüb erscheint
– und das nicht nur von außen; von innen wären es Bilder heroi-
scher Zeiten, die auch längst passé sind, verflossen. Sätze, in
denen Subjekt und Objekt unzweifelhafte Plätze einnehmen, Namen
und Rollen bestimmte waren, sind gesagt: die Vorstellungen, die
Feststellungen. Für hier aber und gegenwärtig gelten noch keine
fertigen Sätze, nicht mehr; gäb es eine Sprache für die Brache?[...]
Das Herner Meer ist an der Emscherinsel gelegen, seltsam genug;
sonst liegen ja Inseln eher im Meer. Ein Fall von Verwechslung
oder eine Verwechslung von Fall: wär etwa dem Meer an der Insel
gelegen? Das Meergenannte ist nur ein Mehr an Breite des Rhein-
Herne-Kanals, wo der einmal endete; nordöstlich vom Wasserkreuz
liegt noch ein Dattelner Meer, dort kommen vier Kanäle zusammen.
Hinter der westlich nächstgelegnen Grenze bedeutet HET MEER den
See: ein Binnengewässer. Und entre deux mers heißt ja auch eine
Gegend zwischen den Flüssen Garonne und Dordogne in Frankreich.[...]
Insel zwischen zwei Flüssen, zwei Sprachen; zwischen den beiden
Gewässern die BRACHE, ein gebrochnes Sprechen von Ufer zu Ufer,
von Land zu Land, dazwischen sumpfige Gelände: Brüche, Broichs,
broeken, brooks, die Bäche, Niederungen, Nederlands, Übergänge,
Unsicheres – Flüsse, mit denen Grenzen gezogen werden, über die
gesetzt wird, übersetzt zwischen Meer und See, zwischen die See
und der, der und dem See: de zee, het meer, la mer, le lac, the
lake, the sea: to see. Die Seiten gewechselt, verwechselt, ver-
inselt, vereinzelt auf Brücken. Wer oder wem ist woran gelegen?[...]
Warten. Warten: das Warten, die. Warten auf den Fluss: Fenster,
in leicht erhöhter Lage, ermöglichen eine andere Sicht, es gibt
einen Rahmen, ein Bild, eine Perspektive: von dieser Warte aus.
Es gibt eine Mehrzahl davon, mehr als ein Fenster, mehr als ei-
nen Raum, einen Rahmen, es gibt das Verbindende der Brücke, auf
die alle Räume hinauslaufen, dazwischen, da steht ein Tisch, er
ist solide gebaut und lässt sich doch leicht verschieben, daran
kann man Platz nehmen im Gespräch und für Essen und Trinken ist
gesorgt, so entsteht ein Wir im Wort und -sinn durch Bewirtung."
Barbara Köhler gewinnt dem an sich skurrilen Projekt eine Ernsthaftigkeit ab, die sich jenseits von allen in die Landschaft programmierten und projizierten Klischees entfaltet. In ruhiger stetiger Führung steigern sich ihre Notate hinein in die verborgene Wort und Sprachwelt dieses Stück Landes. Loten sie aus und gewinnen ihr etwas ab, das sich zu lesen lohnt. Köhlers leise Verspieltheit und das weniger wilde als vielmehr getragene Assoziieren in ihren Texten besitzt Ruhe und Kraft zugleich. Ihr Band benötigt Zeit, auch zum Reinkommen – so wie die Emscher auch, und hallt dann umso mehr nach. Äußeres und Inhalt gehen perfekt zusammen und stützen das anregende und nachdenklich machende Leseerlebnis.
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