Bericht aus einem dunklen Frühling
Merlin ist nicht nur jener sagenumworbene Zauberer, der, so heißt es, aus der Liaison des Teufels mit einer Königstochter hervorgegangen sei, sondern auch der Namensgeber eines bereits 1957 in Hamburg gegründeten Verlages, für den „ein Programm, das der Literatur und Kunst die spirituelle Bewältigung der Not der Existenz zum Thema stellt“ eine Verpflichtung ist. Er ist einer der am längsten existierenden, unabhängigen Verlage Deutschlands, feierte 2007 gerade sein 50jähriges Bestehen, und kann auf eine Vielzahl bedeutender Publikationen zurückblicken, von denen einige skandalumwittert waren, andere bis heute stille Insider-Tips, die immer wieder verstreute Nachfrage und damit manche unvermutete Neuauflage nach sich ziehen. So wurde beispielsweise Elisabeth Alexanders Gedichtband „Bums“ immer wieder nachgedruckt, der Erstling einer heute fast Vergessenen, die aber einige beachtenswerte Bücher geschrieben und veröffentlicht hat, im Ganzen wohl mehr als 40. „Bums“, das erinnere ich noch, war ein in den siebziger Jahren in den Kreisen der Alternativliteratur herumgereichtes Werk, das ungewohnt explizit das Thema Sex in die Lyrikszene transportierte und in sehr frecher, aber auch durchweg künstlerisch gelungener Manier einige Tabus brach, da war von Fürzen die Rede und von Schweißfüßen, von Pißpöttchen und langweiligen Schwengeln.
Merlin verlegte seit jeher „riskante“ Bücher, die sich sogar vor Gerichten dem Vorwurf der Obszönität erwehren mussten, bspw. Jean Genets Notre-Dame-des-Fleurs – andere Namen wie Georges Bataille oder Marquis de Sade sind in diesen Zusammenhängen nicht unbekannt. Auch Unica Zürns Erzählung „Dunkler Frühling“ enthält durchaus explizite Passagen, die für die damalige Zeit (das Büchlein wurde geschrieben während eines kurzen Aufenthaltes an der Côte d’Azur 1967 und erschien erstmals 1969) gewagt und ungewohnt waren. Sie schildert das sexuelle Erwachen eines zehn- dann zwölfjährigen Mädchens, begleitet sie in die Entdeckung der Masturbation und das Erleben und Ausleben erster Phantasien. Sie schildert, wie der Bruder sich an ihr vergeht und wie sie eigenes Verlangen oral von ihrem Hund befriedigen lässt. Doch sind dies nicht die wichtigsten Passagen des Buches – für das Verständnis der Geschichte notwendig und plausibel, aber es sind nicht die zentralen Erzählmomente. Unica Zürn begibt sich nicht effektheischend in die Schilderung kindlicher, sexueller Erfahrungen, auch nicht zu ausführlich, ihr Umgang ist ein wesentlicher und das Wesen des Kindes ist ihr ein liebevoll zu betrachtendes.
Man weiß von Unica Zürn, daß sie in ihrer Prosa sehr wohl Autobiographisches verarbeitete. 1916 in Berlin geboren, litt sie ähnlich wie die Protagonistin in „Dunkler Frühling“ darunter, daß ihr Vater nie da war. Das Mädchen in der Geschichte entwickelt eine nahezu überirdische Sehnsucht nach dem Mann, den sie lieben kann, der Vater und später der Fremde, den sie im Schwimmbad beobachtet, wird für sie „zu einem großen Zauberer, zu einem Wesen, das alles, selbst das Unwahrscheinlichste, vollbringen kann.“ Sie verachtet ihre Mutter und sie hasst ihren Bruder. Schlussendlich sind diese beiden es, die ihr ihre erste Liebe rauben und dafür sorgen, daß die Geschichte ein dramatisches Ende nimmt.
Unica Zürn schrieb die Erzählung binnen kurzer Zeit, seit 1960 erkrankt an immer wiederkehrenden Schüben einer paranoiden Schizophrenie, lebte sie damals an der Seite des surrealistischen Künstlers Hans Bellmer, in der Hauptsache in Paris. Man hat sie aufgrund dieser Beziehung und ihrer bildnerischen Beschäftigung mit „automatischen“ Zeichnungen, sowie ihrer wundervollen, überraschenden, „surrealen“ Anagrammgedichte, bei den Surrealisten eingeordnet, sie hat jedoch, wenn man ihre Prosa liest, essentiell kaum etwas mit dieser Richtung gemein. Ihre Prosa ist höchst real, die inneren Abläufe sind stimmig und fast in einem, wenn auch poetischen Berichtsgestus geschrieben, der so stark dominiert, daß man das Gefühl bekommt, hier rechnet jemand ab. Hier ist das private (und nicht surreale) Zeugnis der Antrieb. Wenn Unica Zürn von den Wahrheiten des Mädchens spricht, so spricht sie von ihren eigenen Wahrheiten, die einmal galten. Sie breitet aus und legt vor, schonungslos, ohne seitenlanges Aufrechnen wird abgerechnet, da schreibt sich jemand seine eigene Kindheit, sein Erwachen zum sexuellen Menschen von der Seele. Und die Seele ist der Ort, der das Wirkliche bestimmt, der zum Wirklichen macht, was an ihm geschieht. Das eine ist der Grund für das andere, die Verflechtungen ergeben den Script. Es gibt keine Willkür, alles hat seine Begründung in den seelischen Landschaften und im Außen spiegelt sich nur, was das Innere als Film sieht, sehen will, sehen muß. Unica Zürns Prosa ist aus der Selbsterkundung gereift und notwendig und der manchmal durchklingende lakonische Ton, eine kleine Nuance der Resignation, erzählt von der Unausweichlichkeit und Notwendigkeit auch des Todes. Die Wahrheit gibt es nur in der Gegenwart, wo auch der Tod neben uns steht.
Es ist einfach stark, wie Unica Zürn es schafft, seelische Geschehnisse zu erzählen, ihren inneren logischen Strukturen dabei zu folgen. Ihr Erzählen erinnert mich an den Christoph Meckel der Suchbilder, es ist nicht so opulent poetisch (und trotzdem begriffsklar) wie bei diesem, aber ebenso wahrhaftig und parteiisch. Man kann es nicht loslösen „aus dem Koordinatensystem des Biographischen und der Prämisse des Wahnsinns“, wie es sich Helga Lutz in ihrem ausgezeichneten Buch über Unica Zürn für deren Werk wünscht (und dabei wohl aber eher die lyrischen und zeichnerischen Arbeiten im Sinn hat), sondern muß Zürns Prosa aufnehmen als eine authentische Bewältigung, als ein mit der Schreibenden selbst aufs Innerste verknüpftes Sprechen. Also doch wieder das „biografisch-pathologisch geprägte Interpretationskorsett“? Für die Prosa unbedingt, für Unica Zürns Lyrik auf keinen Fall. Die Lyrik war ihr Weg sich aus der Biografie zu lösen, dort gab es das Experiment, das Walten von Inspiration und geheimer Bedeutung. Die Prosa aber jener, sich in sie hinein zu bewegen, umzuschauen und Klarheit zu gewinnen. Manchmal mit prophetischer Sicht – 1970 stürzte sie sich, kaum daß sie von einem Klinikaufenthalt zurückgekehrt war, in Paris aus dem Fenster. Der von einem Schlaganfall gezeichnete Hans Bellmer hatte sie verlassen.
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