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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Das intellektuelle Gewissen Mitteleuropas

Ein geschichtliches Gedächtnis und die Liebe zur Literatur kennzeichnen den heimatverbundenen Kosmopoliten Tomas Venclova
Hamburg

Mitteleuropa, oder besser Mittelosteuropa bildet den Dreh-und Angelpunkt im abenteuerlichen Leben des litauischen Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Tomas Venclova. 1937 in Klaipėda (deutsch: Memel) geboren sah er sich so ziemlich sämtlichen totalitären Herausforderungen ausgesetzt, die das 20. Jahrhundert für Europa und im speziellen für das kleine Litauen bereitgehalten hat. Insofern sind die vorliegenden Gespräche Tomas Venclovas mit der amerikanischen Schriftstellerin Ellen Hinsey bereits vor dem geschichtlichen Hintergrund von prägnanter Eindringlichkeit geraten. Hinzu kommt, daß Venclova nicht nur ein starker Lyriker und Schriftsteller ist, sondern ein hochgebildeter Intellektueller, der sich zeit seines Lebens nicht in den elitären Elfenbeinturm zurückgezogen hat.

Der abenteuerliche Lebensweg des Tomas Venclova wird in drei Blöcken aufgeteilt und bildet in der Zusammenschau eine Art Vademecum, wie sich bürgerliche Bildung und europäische Zivilisation im Umfeld totalitaristischer Bedrohungen zu behaupten versuchen.  

Bereits die Schilderungen über Kindheit und Kriegszeit sind durchsetzt von landeskundlichen Aufschlüssen. Der persönliche Lebenslauf ist notgedrungen verknüpft mit jenen politischen Ereignissen, deren Dramatik sich in diesem mittelosteuropäischen Kontext in besonderer Weise bemerkbar machte. Kennzeichnend für das Spannungsfeld zwischen Russland, Polen und Deutschland war eine häufige Abfolge von wechselnden Machthabern, welche Vertreibungen und gewaltsamen Ortswechsel mit sich brachten.

Der junge Tomas Venclova erlebte die Erfahrungen der Minderheit gleich in mehrfacher Weise, da sein Vater Antanas Venclova als Kommunist hohe Ämter als Kulturfunktionär und Minister unter sowjetischer Herrschaft innehatte. Das sowjetische Establishment bildete, ohne jeglichen Rückhalt im Volk, lediglich eine hauchdünne Schicht in Litauen.

Früh schon begann sich Venclova von sozialistischen Idealen abzunabeln. Das Jahr 1956, als Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU mit seiner Geheimrede eine sogenannte Entstalinisierung einleitete, stellte dabei eine erste Zäsur dar. Die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn gegen das aufgezwungene sowjetische System im Herbst 1956 bestätigte Venclovas Ahnungen:

„In Sekundenschnelle begriff ich, daß wir immer noch in einem stalinistischen Universum lebten und jeder Versuch, diesen »Fehler« auf evolutionärem Wege zu »korrigieren«, schlicht und einfach naiv war. Das System mußte demontiert werden, Punkt.“

Um den zunehmenden Problemen mit dem litauischen KGB zu entgehen, siedelte Venclova in den frühen 1960er Jahren nach Moskau über. Er kannte Moskau von früheren Besuchen und war über das damals düstere, graue und staubige Ambiente nicht weiter irritiert: „Das Besondere an Moskau waren die Menschen – wenn man es schaffte, die richtigen zu finden“. Im zweiten Teil der Gespräche wird Venclovas zunehmende oppositionelle Einstellung gegenüber dem sowjetischen System entfaltet. Zu keinem Zeitpunkte verwechselte Venclova diese Haltung mit einer Einstellung gegen Russland und seiner Kultur. Seine Begegnungen mit dem russischen Dichten Anna Achmatowa, Joseph Brodsky oder Boris Pasternak gehören zu den spannendsten Passagen im Buch. Venclova hatte in diesen aufregenden Jahren Kontakte zum intellektuellen Underground gefunden. Neben zahlreichen marginalisierten Schriftstellern wie Gennadij Ajgi oder Alexej Krutschonych hatte er auch unangepaßte Persönlichkeiten wie etwa Wladimir Finkelstein oder Grigorij Pomeranz kennengelernt. Venclova hatte in dieser Zeit begonnen, sich in der verfolgten Menschenrechtsbewegung zu engagieren.

Am 01. Dezember 1976 war Venclova federführend dabei, als in einer Moskauer Wohnung erstmals eine litauische Helsinki-Gruppe während einer Pressekonferenz die Einhaltung der Menschenrechte forderte. In einem Manifest wurde damals unter anderem darauf hingewiesen, daß „der gegenwärtige Status von Litauen die Folge des Einmarschs von sowjetischen Truppen in sein Gebiet am 15. Juni 1940 ist“. Zu damaligen Zeiten unter der allgegenwärtigen Verfolgung durch den sowjetischen Geheimdienst KGB eine Formulierung, die strengste Bestrafung nach sich ziehen konnte.

Im abschließenden Teil dieses Buches berichtet Tomas Venclova über seine Erfahrungen im Westen, nachdem ihm 1977 nach einer zunächst genehmigten Ausreise aus der UdSSR die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen wurde und damit eine Wiedereinreise in die Heimat unmöglich wurde. Es stellte sich für ihn die glückliche Fügung ein, daß er in den USA den von ihm verehrten Dichter und Landsmann Czesław Miłosz kennenlernen durfte und sich mit ihm befreundete. Der über ein Vierteljahrhundert ältere Miłosz war 1911 in Szetejnie, dem heutigen Šeteniai geboren. Sie waren also Landsmänner obwohl Miłosz in polnischer Sprache geschrieben hat, beide hatten in jungen Jahren in Vilnius studiert. Für Tomas Venclovas Jahre im Exil hatte Czesław Miłosz eine wertvolle Stütze dargestellt, auf dessen Betreiben hin er sogar eine Dozentur an der Universität erhalten hatte. Bis 2012 lehrte Tomas Venclova an der renommierten Yale University.

Ganz offensichtlich hatte die frühe kulturelle Prägung wie auch zahlreiche persönliche Begegnungen mit unabhängig denkenden Zeitgenossen das weitere Leben Tomas Venclovas in seiner unbeugsamen Haltung bestimmt. Auf derlei Einflüsse angesprochen verwies Venclova auf litauische Denker wie Petras Juodelis (1909-1975), Ona Lukauskaitė (1906-1983) oder auch Justinus Mikutis (1922-1988), dem er nur einmal aber dafür mit einem „unauslöschlichen Eindruck“ begegnet war. Sie waren, wie ihr Land, mit zum Teil furchtbaren Schicksalsschlägen während der Besetzung durch den deutschen Nationalsozialismus wie auch den sowjetischen Realsozialismus konfrontiert.

Venclovas Kampf gegen die sowjetische Totalität ist durch seine intellektuelle Redlichkeit gekennzeichnet, indem er sich von Ideologien nicht vereinnehmen ließ und sich zugleich gegen jeglichen übersteigerten Nationalismus einsetzte. Eine Haltung, die gerade im mitteleuropäischen Umfeld, in welchem Opfer und Täter nicht immer einfach voneinander zu trennen sind, einen hohen Grad an Differenziertheit abverlangt. Bereits als sowjetischer Dissident hatte sich Venclova an seine litauischen Landsleute gewandt, sich der Mitverantwortung am Holocaust der Juden zu stellen. Während Ultranationalisten derlei Gesten und Überlegungen als eine Demütigung empfanden, hatte dies Venclova gerade umgekehrt als den einzig gangbaren Weg erachtet: „Doch Reue ist keine Demütigung. Die Wahrheit ist keine Demütigung. Die Wahrheit ist der einzige Weg, Würde wiederherzustellen“.    

Es war eine gute Wahl, Claudia Sinnig für die Übersetzung dieser vorliegenden Gespräche zu gewinnen, zumal sie sich längst große Verdienste um die Vermittlung litauischer Literatur erworben hat. Sie verfügt über die nötige Sensibilität für einen Kulturraum, der wohlweislich dünnhäutig reagiert, wenn seine Souveränität von ausländischen Mächten bedroht scheint.

In heutigen Tagen finden sich auch in Deutschland bis in die bürgerliche Mitte hinein wieder politische Stimmen, die leichtfertig das Schicksal der Länder des östlichen Europas als Verhandlungsmasse abtun, die zwischen Berlin und Moskau oder auch Brüssel verabredet wird. Die Ahnungslosigkeit wird besonders dann bedrückend, wenn sich Vertreter der politischen Linken wie auch der politischen Rechten im unseligen Geist des Hitler-Stalin-Paktes vom Herbst 1939 verhalten. Bereits damals war den einen die Freiheit und den anderen das konkrete Schicksal dieser mitteleuropäischen Völker einerlei.

Tomas Venclova
Der magnetische Norden - Gespräche mit Ellen Hinsey. Erinnerungen
Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Sinnig
Suhrkamp
2017 · 652 Seiten · 36,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42633-3

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