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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Er hatte genug gesehen

Hamburg

Zweifellos ist Gay Talese einer der einflussreichsten und klügsten Journalisten, die es je gab/ gibt. Sein Stil, seine totale Wahrheit, seine Prosa, eine vollkommen uneitle Komposition von Beobachtungen, die, sozusagen kuratiert, im Gesamten das Bild erzeugen – wie der Endschnitt eines Films –, ist praktisch unerreicht und noch immer Vorbild für Generationen von Textern. Die Wahl seiner Themen steht auf einem anderen Blatt. Nach schier unfasslichem Investigativ-Journalismus bei Mafia-Paten und als Swinger-Club Besitzer u.a., um über die Themen organisierte Kriminalität und Sexuelle Revolution unkaschiert und selbsterlebt schreiben zu können, hat Talese dieses Jahr ein weiteres spektakuläres „Enthüllungsbuch“ aus seiner Hochzeit der 70er/ frühen 80er veröffentlicht – und dieses Mal, will man der einhelligen Kritik glauben, völlig danebengegriffen. Gerald Foos, der Voyeur, einer der „größten überhaupt“, so Talese – der jahrzehntelang Motels führte mit eingebauten Gucklöchern, um jeden Abend grenzenlos spannen zu können, ist keine gesicherte Quelle. Für Talese die Nemesis überhaupt. Das Buch war bereits 1980 quasi fertig, aber aufgrund einer Klausel Foos, noch unter Verschluss zu halten. Jetzt als greiser Pensionär hat er Talese die Erlaubnis erteilt. Aber nach den im Prinzip unerträglichen Enthüllungen, die Foos selbst als pseudo-wissenschaftliches Sexualforscher-Tagebuch festhielt, inklusive eines Mordes, und den daraufhin einberufenen polizeilichen Untersuchungen, die zu dem Schluss kamen, dass Schlüsselmomente und vermeintliche „Wahrheiten“ von Foos schlichtweg erfunden worden sind, knurrte Talese kürzlich nur Folgendes

“I should not have believed a word he said,” Talese told the Post. “I’m not going to promote this book. ... How dare I promote it when its credibility is down the toilet?”

Also, man weiß nicht, was stimmt. Damit ist es kein Werk des Journalismus in dem Sinne, als dass sein vordergründig ausgeschlachtetes Thema „Der Sex der anderen“ sich in gesicherten Tatsachen befindet. Doch dies ausgeklammert, ist das Buch als Portrait des Widerlings Gerald Foos, des Voyeurs, sogar inklusive jener Fake-Enthüllungen, ziemlich gut. Talese lässt Foos abartigem Tagebuch viel Raum, und natürlich ist dies ermüdend, doch darum geht es: Foos ist so. Er schreibt so. Talese braucht gar nicht viel über Foos zu schreiben, oder gar über ihn zu urteilen (was er sowieso nie tut, deswegen ist er wie eingangs ein König), er braucht einfach nur erzählen, wie ihn Foos aufgesucht hat, was er selbst in jenem Schreckenshaus in Aurora, Colorado, erlebt, und den Rest erledigt der schwer gestörte, reuelose und bis zuletzt gewissenlose Foos selbst mit seinem Geschreibsel. Das macht das Buch so interessant. Es geht nicht darum, was er sieht, oder ob es wahr ist, sondern wer es sieht und warum er es gesehen haben will, selbst wenn es wohl nicht so wie erzählt stattfand. Das macht es noch verstörender, speziell durch Taleses Schilderung des letzten Treffens von ihm und dem greisen Foos ein, zwei Jahre zuvor, bei dem ihm Foos erzählt, warum nun jetzt 30 Jahre später er eine Veröffentlichung wünsche. Nämlich nicht aus Gewissensgründen, sondern weil er eine wohl millionenschwere Sammlung Sportdevotionalien (sic!) (Footballhelme, Kelloggs-Packungen etc.) in einem privatem Kellermuseum besäße, auf die er die Aufmerksamkeit der Leser des Buches lenken wolle, damit einer sie ihm abkaufe. Das bedarf keines weiteren Kommentars. Und obwohl sich Talese von diesem Buch distanziert, ist es als düsteres Psychogramm eines Perverslings ein erschütterndes Dokument, das zutiefst Unsicherheit erzeugt und wie ein dumpfer Schlag aus den Auswüchsen einer Gesellschaft ohne Tabus zu kommen scheint. Man kann dieses Buch nicht empfehlen, aber wer es liest, wird eine körperlich spürbare Erfahrung durchmachen, die es wohl so oft nicht zu machen gibt.

Gay Talese
Der Voyeur
Übersetzung: Alexander Weber
Tempo · Hoffmann & Campe
2017 · 224 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-455-00099-3

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