Geschichtsunterricht mit Leiche
Jahre ist es her, dass zuletzt ein Roman von Ahmet Ümit auf Deutsch erschien. Es gibt eine Sammlung mit Kurzgeschichten, im Unionsverlag liegen „Nacht und Nebel“ und „Patasana“ vor (ersterer ein Meisterwerk, zweiterer eines seiner schwächsten Bücher). Und nun, in der Übertragung von Sabine Adatepe, „Die Gärten von Istanbul“. Es ist dem Random House-Verlag btb hoch anzurechnen, dass er nach Hakan Günday und Burhan Sönmez nun auch einen neuen Ümit nach Deutschland bringt, und man darf hoffen, dass dieses wichtige Engagement für die türkische Literatur fortgesetzt wird.
Überhaupt müsste Ümit für so gut wie jeden deutschen Publikumsverlag interessant sein mit seinen unterhaltsamen literarischen Istanbul-Krimis. In der Türkei gehört er zu den bestverkauften Autoren überhaupt, was auch daran liegen mag, dass er stets aktuelle Ereignisse mit in seinen Geschichten verarbeitet. So brachte er in einem 2013 erschienenen Roman noch die Gezi-Proteste unter, die nur wenige Monate zurücklagen. Dass er für diese „Taktik“ durchaus nicht zu Unrecht auch kritisiert wird, versteht sich von selbst.
In den „Gärten von Istanbul“ spielt, wie in so vielen seiner Bücher, die Stadt am Bosporus die eigentliche Hauptrolle, die Krimihandlung rund um Kommissar Nevzat und sein schräges Team (das bisweilen an den „Tatort“ erinnert) ist ein Vehikel, um dem Leser andere Dinge näher zu bringen.
Am Atatürk-Denkmal wird eine Leiche gefunden, Kehle durchgeschnitten, ausgerichtet in Pfeilform, mit einer historischen Münze in Händen, die unter König Byzas geprägt wurde, dem Gründer der Stadt, die später zu Konstantinopel und viel später zu Istanbul wurde. Die Polizisten stehen vor einem Rätsel. Was wollen die Mörder ihnen sagen? Sie haben keine Spuren hinterlassen. Das Opfer war in einer städtischen Kommission aktiv, bei der es um die Vergabe von Bauland auf der historischen Halbinsel am Goldenen Horn ging. Und während Nevzat und seine Assistenten sich noch den Kopf darüber zerbrechen, was all das zu bedeuten hat, taucht schon die nächste Leiche auf. Wieder an einer historischen Stätte, wieder mit einer historischen Münze in Händen, wieder pfeilartig ausgerichtet, als solle der tote Körper auf den Ort des nächsten Verbrechens verweisen.
Eines haben alle Opfer gemeinsam: Sie arbeiteten auf verschiedene Weise daran, dem Tourismus-Tycoon Adem Yezdan eine umstrittene Baugenehmigung für ein riesiges touristisches Zentrum nahe Sultanahmet, dem Herzen der historischen Altstadt, zuzuschanzen. Darunter auch ein Journalist, den Yezdan mit Immobilien gekauft hat, und der in einer großen Tageszeitung für dessen Projekte trommelte und seine Gegner niederschrieb – darunter auch eine linke Gruppe, die sich gegen den Bauwahn und für den Erhalt historischer Stätten einsetzt. Auch diese Gruppe gerät zeitweise ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Immerhin hat sie ein Motiv. Doch alle Spuren, denen Nevzat folgt, scheinen ins Leere zu laufen.
Ahmet Ümit stellt damit gewichtige reale Probleme ins Zentrum seines Romans: Insbesondere unter der AKP-Regierung nahm die Korruption im Bauwesen massiv zu. Die Clique um Präsident Erdogan schanzte befreundeten Unternehmern lukrative Aufträge zu, diese kauften im Gegenzug Medienhäuser auf, um die Berichterstattung unter Kontrolle zu kriegen. Berichten Medien zu regierungskritisch, drohen die Inhaber, Regierungsaufträge zu verlieren. Ein perfides System, das seit dem Putschversuch von 2016 freilich noch schlimmer geworden ist, denn seither wurden nahezu alle unabhängigen Medien verboten. Ümits Buch erschien in der Türkei erstmals 2010.
Nicht weniger fatal ist die in Istanbul allenthalben zu besichtigende Geringschätzung für die zweitausendjährige Geschichte der Stadt. Historische Stätten verfallen oder werden abgerissen, um an ihre Stelle Einkaufszentren zu setzen. Der wohl berühmteste derartige Fall war der Versuch, den Gezi Park am zentralen Taksim Platz niederzuwalzen, was zu einem landesweiten Aufstand führte, der von der Polizei brutal niedergeschlagen wurde.
Und so ist „Die Gärten von Istanbul“ nicht nur ein spannender und höchst unterhaltsamer Kriminalroman, sondern auch eine erhellende Geschichtsstunde. Man kann das Buch wunderbar als Begleiter mit nach Istanbul nehmen und nach jedem Kapitel die Orte in der Stadt aufsuchen, um die es geht, und deren vielfältige historische Hintergründe man dann besser verstehen wird. Die Thematik ist heute noch aktueller als vor einigen Jahren. Wer verstehen will, wie Politik und Gesellschaft in der Türkei funktionieren, wird in Ahmet Ümits Büchern fündig.
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