Solange sie nur meinem Sieg ein Ende bereiten
Das Trauma ins Zentrum des Schaffens zu stellen ist mutig, um nicht zu sagen: gewagt. Oft bleibt der Text im Tagebuchartigen stecken, kommt nicht hinaus über die persönliche Katharsis. Andererseits entsteht aus genau diesem Wagnis immer wieder große Literatur. Man denke an Kurt Vonneguts Kultroman „Schlachthof 5“, der einen Ex-Soldaten alle paar Jahre per Zeitreise zurück in den „Feuersturm“ über Dresden schickt, man denke an Virginie Despentes, die sich seit über 30 Jahren immer wieder an die Erfahrung ihrer Vergewaltigung heranschreibt.
„Ereignisse geschehen nicht einfach, sie kehren wieder“ – mit diesen Worten beginnt auch Olivia Rosenthals aktuell auf Deutsch (Übersetzung: Nicola Denis) erschienenes Werk „Überlebensmechanismen in feindlicher Umgebung“. Mit der obsessiven Beharrlichkeit wiederkehrender Alpträume variieren die ersten drei Kapitel ein einziges Motiv: Verlassen, Verlassenwerden, und das Gefühl der Schuld, das daraus resultiert.
Ein seltsam actionloses Computerspiel könnte es sein, in das uns die Autorin unvermittelt hineinwirft, oder aber ein abstraktes, seiner Protagonisten entleertes Kriegsszenario. Die Erzählerin hat ihre Gefährtin am Straßenrand zurückgelassen und kämpft nun selbst ums Überleben. Sie verschanzt sich in einem verlassenen Haus, wartet darauf, dass „sie“ zurückkommen. Die Angst, aufgespürt zu werden, hält sich die Waage mit der Angst, niemals gefunden zu werden, als letzte Überlebende in einer postapokalyptischen Welt einfach vergessen worden zu sein. Von „Patrouillen“ ist die Rede, doch gibt es die Verfolger wirklich? Oder existieren sie lediglich in den Wunsch-, Angst- und Rachefantasien der Erzählperson? Immer wieder kehrt das innere Bild der am Straßenrand Zurückgelassenen wieder, und mit ihr die zwanghafte Rechtfertigung: „Wir wären beide gestorben.“
Dann kippt das Szenario, schwappt über in einen weiteren (Alp)Traum-Teil, der die Grundkonstellation leicht verschoben wiederholt. Unterbrochen einzig durch die knappe Regieanweisung der Erzählerin/Autorin, die uns die surrealen Szenarien präsentiert als „möglicher Ausdruck dessen, was mich heimsucht“. Mehr Deutungsangebote macht sie nicht, sondern stößt uns konsequent zurück in die bezugslosen Welten des Erzähl-Ich, aus denen sich nach und nach die kondensierte Erfahrung eines verletzten/verletzenden Kindes herausschält. Nun ist es selbst „die Zurückgelassene“ und hat im Innern eines leeren Hauses (ob dasselbe Haus wie im ersten Kapitel, bleibt unklar) die „Rolle des Spähers“ eingenommen. „Sie werden bald zurückkommen“, lautet auch diesmal sein Mantra, und wieder ist die Erwartung sowohl mit Hoffnung als auch mit Schrecken besetzt. Die Schwester, erfährt man allmählich, ist verschwunden. Das Ich rechnet mit einer „schlechten Nachricht“ – man ahnt einen Unfall, ein Verbrechen. Zumal Rosenthal subtil mit Anleihen aus Psychothrillern und Horrorfilmen spielt: Schmutzflecken und Erdkrümel auf dem Boden des hermetisch abgeriegelten Hauses zeugen vom Eindringen eines Fremden, der sich bereits im Innern befindet und so die obsessiven Versuche, den vermeintlichen Schutzraum abzusichern, von vorn herein zunichtemacht.
Die stückweise Auflösung jeder Sicherheit setzt sich fort in einer „Treibjagd“ – ein kindliches Spiel, das im Lauf seines Fortgangs jegliche Unschuld verliert. Kaum etabliert die Ich-Erzählerin, dass sie zu den Gejagten zählt, verschieben die Rollen sich. Genau wie die Gejagten, überlegt das Ich, leidet auch der Jäger unter seiner Vereinzelung, die keine Solidarität mit den Mitspielern erlaubt. „Was hätte ich von der Rolle als freie, unerreichbare und unauffindbare Gewinnerin des Spiels?“ ist die vielleicht zentrale Frage, die sich die Erzählerin stellt. Sie sabotiert die Separierung, wird zum Schatten des Jägers, und verbündet sich schließlich mit einem weiteren Gejagten, der sich als Retter und Eindringling zugleich erweist: Das Ausgeliefertsein des Ich an den Jäger nutzt der „Retter“ für einen (sexuellen) Übergriff. Sämtliche Konstellationen, so scheint es, sind im Kern zurückzuführen auf eine symbiotische Schwesternbeziehung, aus der sich das Ich abwechselnd herauszulösen und in die es wieder einzutreten versucht. Ist die Schwester der Jäger, mit dem das Ich verschmelzen will? Die übergriffige Verbündete? Oder imaginiert sich gar die Täterin im Nachhinein als Opfer?
Nicht zuletzt erinnert die somnambule Atmosphäre, die Rosenthal mit erstaunlich einfacher, klarer Sprache erzeugt, an Jean Cocteaus „Kinder der Nacht“: die Hassliebe des Geschwisterpaars, das sich ohne Realitätsbezug in einer Fantasiewelt einrichtet, die stets mitschwingende Todessehnsucht, die bizarre Architektur des Hauses, eine Nachahmung des labyrinthischen Unterbewusstseins.
Doch Rosenthal zieht – geschult an der Cut-up-Technik – eine weitere Ebene ein, die ein Außen suggeriert und so die Dimensionen noch einmal erweitert: Zwischen die kindlichen Schuld- und Wiedergutmachungsfantasien schiebt sie journalistisch-nüchterne Berichte, die auf unterschiedliche Weise das Todes-Motiv aufgreifen: Von Nahtoderfahrungen ist die Rede, von einer Frau im Wachkoma, die bewegungs- und sprachlos ihrer Umgebung ausgeliefert ist, von Tatort-Sicherung, DNA-Analyse, Verwesungsstadien menschlicher Leichen. Was zunächst zusammenhanglos wirkt, offenbart nach und nach Parallelen zu den dystopischen Traum- oder Erinnerungssequenzen: Existenzielle Erfahrungen wie Lähmung, Hilflosigkeit, unerlaubtes Eindringen in die Privatsphäre oder das Gefühl, aus dem eigenen Körper herauszutreten, um sich vor allzu schmerzlichem Erleben zu schützen, spiegeln sich in Kontexten außerhalb des Ich und vermitteln so einen – zugegeben morbiden – Halt in der Welt.
Weitere Anknüpfungspunkte an eine erfahrbare Realität bieten schließlich die letzten beiden Kapitel – erleichternd und enttäuschend zugleich. Die beiden Schwestern sind erwachsen, haben das Elternhaus hinter sich gelassen, leben in Paris. Doch wie zuverlässig erinnert sich das Ich? „Ein permanentes Imstichlassen“ überlagert die Empfindungen des Jetzt. Wer wen verraten hat, inwiefern der „Verrat“ aus Selbstschutz geschah, lässt Rosenthal offen. Sie zeichnet den Versuch einer Heilung nach, ohne Antworten zu liefern oder die Schuldfrage eindeutig zu klären. Ähnlich, übrigens, wie in ihrem zeitgleich erschienenen Roman „Wir sind nicht da, um zu verschwinden“ – die sprachliche Annäherung an das, was nicht in Worte zu fassen ist, kristallisiert sich auch bei Rosenthal als Kern ihrer Poetologie heraus.
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