Der überscharfe Ortssinn
Auf Seite 166 dieser „einfachen Fahrt ins Landesinnere“ sagt der Ich-Erzähler, der seinem Autor Peter Handke zum Verwechseln ähnlich ist, ähnlich sein muss: „Es ist jetzt die Zeit, zu erzählen, was es mit der »Obstdiebin« auf sich hat; Zeit, zu erzählen, wie aus ihr »Die Obstdiebin« geworden ist.“ Erst nach über einem Viertel also, wenn man den Text quantifizieren möchte, setzt die „eigentliche“ Erzählung von der Obstdiebin und ihrer Wanderung in die und in der Picardie ein. Von einer Handlung, gar einem Plot will ich nicht sprechen, auch wenn man etwas in dieser Richtung nacherzählen könnte. Aber wozu? 166 Seiten, genau genommen 158 Seiten, des Anschubs, des Hinführens zur Erzählung braucht es also, dass der Leser ausreichend vorbereitet, ausgestattet, gewappnet scheint, um der Obstdiebin durchs ländliche Frankreich zu folgen. Und die Seiten davor? Sie sind der Auszug des besagten Ich-Erzählers selbst, aus dem Pariser Vorort Chaville nach Lavilleterte im Vexin. Eine kleine Reise, die noch einmal – ein letztes Mal? – Große Erzählung im Wortsinne „auf den Weg“ bringt, einer Figur nachspürt, die ganz klar vor einem steht und sich dennoch nicht fassen lässt. Die, sich selbst überlassen, vielmehr von sich preisgibt, als wenn ein Ich-Erzähler ihr nachstellt. Weswegen er sich zurückziehen muss, um der Erzählung von der Obstdiebin ihren Lauf zu lassen.
Drei Tage lang ist die Obstdiebin unterwegs, der Leser vielleicht länger. Sich die Zeit für Handkes „Letztes Epos“ zu nehmen, lohnt sich allemal, aber nicht in jedem Fall. Ist man bisher nicht mit Handkes Art des suchenden, forschenden, erinnernden Erzählens „warm geworden“, oder hat man Handke in der Niemandsbucht, der Sierra de Gredos oder in morawischer Nacht zurückgelassen, sich selbst überlassen, wird man auf dieser Fahrt ins Landesinnere nicht zu ihm zurückfinden. Kein Buch für „Handke-Einsteiger“ würde man bei Amazon schreiben, aber das hier ist nicht Amazon. „Schaut nach im Internet!“, wird dem Leser in Handkes neuem Buch nicht nur einmal zugerufen. Trotzig, beiläufig, abwinkend endet so die ein oder andere ausschweifende Passage, in denen jeweils überdeutlich wird, dass es Handke noch immer und wohl vor allem um die Frage geht: wie erzählen?1 Und weil er diese Frage nicht mit ironischer Distanz, mit metafiktionalen Gags oder sonstigen postmodernen Knalleffekten stellt, gilt er – in unzähligen Rezensionen ist es immer wieder nachzulesen, gerade auch jetzt wieder – als Weltflüchtender, als Eskapist, als ganz und gar ungegenwärtig. (Buh!) Begriffe, an denen man sich als Rezensent immer gut entlanghangeln kann, wenn das Buch schnellstmöglich besprochen werden muss. Dabei macht Handke erst einmal nichts anderes – und damit alles anders, als so viele andere Erzähler – als sich Zeit zu nehmen. Zeit zur Anschauung, Zeit für Details, Zeit zum Erzählen und wird damit ganz und gar gegenwärtig, erzählt fast in einer Art Sekundenstil von dem, was der Obstdiebin widerfährt, wem sie begegnet, welche Wege sie wählt und warum.2 Und das alles nicht isoliert in einer Wahrnehmungsblase, sondern durchaus vor dem Hintergrund aktuellen Tagesgeschehens und gesellschaftlicher Entwicklungen. Terror, Flucht und Populismus lassen sich in der Obstdiebin genauso finden, wie – und vor allem – ein gewisses Auseinanderdriften der urbanen und der ländlichen Bevölkerung mit der Konsequenz, dass ganze Landstriche menschlich veröden und vergessen werden.
Und liest sich, zurück auf den Eskapismusvorwurf kommend, die Binnenerzählung vom Tod Zdeněk Adamecs nicht geradezu wie eine Warnung vor der selbstgewählten Isolation?
„Uniformiert soll er bis an sein Ende geblieben sein, unbeleckt von den Weltnachrichten, blind für die zugehörigen Bilder. »Weg mit eurer Information!« – Womit er auch bei seinen Freunden ins Abseits geriet.“
Mag sein, dass dieser Text etwas zu grundsätzlich gerät. Mag sein, es liegt daran, dass auch Die Obstdiebin mitunter als ein sehr grundsätzliches Buch erscheint.
„Diese Geschichte, sie ruft doch nach Überliefern? So eine ist doch noch keinmal erzählt worden? Und ist sie denn nicht eine von heute, wenn je eine? Oder? Oder auch nicht? Laßt uns sehen.“
Und was man in der Folge zu sehen bekommt, ist nicht nur die Wanderung von Handkes Protagonistin, sondern auch eine Wanderung durch Handkes Erzählwelt, die wohl nie zuvor so sehr mit Selbstzitaten angereichert war wie in der Obstdiebin. Da ist die Jukebox, die einen Abend lang eine eigentlich schon verlassene Herberge wieder aufleben lässt und dann ausgerechnet zur Deeskalation beiträgt. Da ist die Liebe zum Fußball, die zu einer poetischen Hommage an Javier Pastore führt. Da ist die Festrede des Vaters vor der Familie, die zum Sprechstück wird. Und nicht zuletzt scheint es kein Zufall zu sein, dass Alexia, so der Name der Obstdiebin, vor allem ihrer Mutter „entgegengeht“.
Ein „scharfer Ortssinn“ trifft auf ein überzeitliches Erzählen, wie es das im deutschsprachigen Raum kein zweites Mal gibt. Die Obstdiebin ist sicher nicht das „Letzte Epos“, vielleicht aber die letzte größere Prosaarbeit Handkes? Erstaunlich ist neben den rekapitulierenden Selbstzitaten auch die Häufung der Abschiede in diesem Buch, die immer noch einmal als solche Betonung finden. Dazu merkwürdig passend die beiliegende Verlagswerbung für die im Februar erscheinende Werkausgabe. In diesem Monat feiert Peter Handke seinen 75. Geburtstag. Ich wünsche ihm noch viele Jahre.
- 1. Wie erzählen – auf althergebrachte Weise? – zumal in Zeiten des Internets, in denen leicht nachzuschauen ist, dass die Obstdiebin für ihren Weg zu Fuß keine drei Tage bräuchte; allenfalls sechs Stunden, sagt Google Maps, aber darum geht es nicht! Vielmehr scheint es die konkrete Umsetzung eines der dem Buch vorangestellten Motti zu sein: „Wenn einer dich zwingt, mit ihm eine Meile zu gehen, geh mit ihm zwei.“ (Matthäus, 5,41)
- 2. Merkwürdig, dass Handkes Erzählen nicht viel mehr „im Trend“ liegt, wo alle (westliche) Welt sich nach Entschleunigung, nach intensivem und bewusstem Leben und Erfahren, nach wahrer Empfindung sehnt.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben