Vertikale Poesie 4
»Die Handlinien aufknäueln/ und ihre Deutung verwirren,/ damit etwas Wirkliches ins Netz fällt … Denn man muss das Wenige, das existiert, sammeln/ und das, was nicht existiert, erschaffen,/ wenngleich man den Menschenklang vergessen müsste.« Roberto Juarroz
„Südamerikanische Dichtung ist zwischen zwei Pole gespannt, einmal Mimesis der tropischen Welt, ihrer Härte, Üppigkeit, ihrem Blühen, Vergehen, ihrer sensuellen Vielfalt, etwa bei Pablo Neruda oder Carrera Andrade, und eine Dichtung, die philosophisch ist und die Kunst, Literatur und Dichtung wieder selbst befragt, etwa bei Jorge Luis Borges oder Octavio Paz. Roberto Juarroz könnte man zu den letzteren Dichtern rechnen, denn seine Dichtung ist Erkenntnis-und Daseins-Fragen gewidmet. Eine Dichtung, die nach dem Sinn und den Möglichkeiten der poetischen Schöpfung fragt. Ihm geht es um eine Phänomenologie, die die herkömmlichen Ordnungen und Abgrenzungen in der Dichtung in Frage stellt. 1925 bei Buenos Aires geboren und 1995 in Buenos Aires gestorben, hat Roberto Juarroz aber keine komplizierten Textgebilde verfasst, es sind dinglich-sprachliche Meditationstexte, die mit ihren Worten den Weg der Dichtung selbst ausschreiten. Juarroz hat dafür den Begriff »Vertikale Poesie« gefunden, eine vektorielle Bewegung, die ständig ausmisst, was zur Existenz des Dichters in einem Gedicht gesagt werden kann und was nicht. Dabei sind ihm Gesten wichtig, Blicke, konkrete Dinge, die er mit Hilfe der Vertikalität prüft. Seine »Vertikale Poesie« hat er in vierzehn Gedichtbüchern gesammelt, die alle durchnummeriert sind und alle den gleichen Titel tragen: »Vertikale Poesie« (Poesía vertical), von eins bis vierzehn. Die Edition Delta in Stuttgart hat sich vorgenommen, alle Bände der vertikalen Poesie, von Juana und Tobias Burghardt ins Deutsche übertragen, herauszubringen. Bisher liegen die Doppelbände 1, 2 und 3 mit insgesamt sechs Titeln daraus vor. Nun ist Band 4 erschienen: die »Siebte vertikale Poesie«.“
Matthias Ulrich, NOXIANA – Zeitschrift für Literatur und Zeichnung, Nr. 41, Winter 2017/2018
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