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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Please baby: read it

Zu @blutundkaffee 2012-2016, den gesammelten Tweets von Ianina Ilitcheva
Hamburg

Willkommen in meiner Welt. Hier gibt’s weit und breit keine Einhörner.

This is not Disneyland, ihr Wichser

Kleiner brüllender Junge im Spiderman-T-Shirt, ich bin wie du.

Wie über den Willen zu leben schreiben ... Leben, schrieb der amerikanische Schriftsteller Jack London, das ist eine seltene Erscheinung; die meisten Menschen existieren bloß. Und auch wenn ich das nicht eins-zu-eins unterschreiben würde – bei der Lektüre der Tweets von Ianina Ilitcheva kann ich doch erahnen, was er meinte.

Denn hier scheint das pure Leben zu Hause. Die ganze Chose der Existenz wird umgepustet wie ein Kartenhaus und es bleiben nur die ganz großen Gefühle, die heftigsten Aussagen, die witzigsten Kleinigkeiten, die derbsten Schönheiten, die glänzendsten Sehnsüchte, die fassungslosesten Hoffnungen. Eine Dynamik, zwischen schallender Ohrfeige und sanfter Berührung, Massage und Faschiertem.

Ich lecke Schlagobers von dir, bis du mich hasst.

Ich lecke euch alle sauber, als wäre ich eine Katze und ihr mein Schritt.
Und danach lecke ich Gott übers Gesicht.

Ich will nicht nur spielen.

Ich weiß, wie unrealistisch das ist. Ich weiß, wie unrealistisch alles ist. Ich bin kein Superheld.
Ich bin nicht einmal Kate Moss.

Selbst, wenn ich nasebohrend auf einem Opossum rückwärts reite und dabei „Baby one more time“ singe, bin ich seriöser als ihr alle zusammen.

Ianina Ilitcheva kam 1983 in Usbekistan zur Welt, mit einer seltenen, unheilbaren Hautkrankheit; die Ärzte prophezeiten dem Kind nur ein sehr kurzes Leben. 1991 zog ihre Mutter mit ihr nach Österreich. Und Ianina lebte, schrieb, studierte Malerei und schließlich Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst, wo ich sie kennenlernen durfte; einmal schrieben wir zusammen ein Gedicht. Twitter verfolgte ich damals nicht, was ich heute ein bisschen bereue. 2016 starb sie im Kreise ihrer Liebsten.

Wenn ich ihre Texte jetzt lese, bin ich überwältigt: Hier setzt sich ein Ich bedingungslos mit der immer zu großen Leere, der immer zu großen Fülle zwischen den Dingen, den Köpfen, den Herzen auseinander. In all dem ist Ianinas Sprache ein sprudelndes und suchendes, ein brodelndes und funkelndes Verbinden und Zertrennen. Ein schlagendes, hungriges Herz für die wildeste Geschichte und die feinste Beobachtung.

Stell dir nur vor, ein Ozean, vollgestopft mit Walen.
Sie zwängen sich aneinander vorbei, es quietscht wie Gummi.

Ein Rudel Hyänen hat einen kleinen Eismond eingekreist, der sich zu weit vom Mutterplanet entfernt hat.
Schwarzstörche bauen ihre Nester in flauschigen Sternenclustern.

Im supermassiven schwarzen Loch warten fünf Orcas gierig auf die Kaiserpinguine, die vom Ereignishorizont stürzen.

Ich möchte nicht unter den schönen Gestalten stehenbleiben.
Ich fahre nachhause, in mein Glashaus aus Nebel.
[…]
Ich will doch einfach nur in Ruhe etwas Schönes anbeten und hin und wieder ein bisschen kuscheln.

Mein Hosenschlitz ist offen.
Wie mein Herz.

In 164 Kürzestkapiteln haben Christiane Frohmann und Rick Reuther Tweets aus Ianinas Account @blutundkaffee zusammengestellt. In der Twitter-Community war sie schon so etwas wie eine Legende. Jemand, in dem sich eine großartige Imagination, ein empfindsames Wesen und eine kompromisslose Freude am Anarchischen, am Tabubruch, am Schreiben-wie-mir-der-Schnabel-gewachsen-ist vereinte.

Lakonisch können ihre Tweets sein, und dann wieder gewollt burschikos. Herzzerreißende Entblößungen ohne falschen Pathos, folgen auf Tweets, die einem die Hose runterziehen und lachen. Weinen. Leise Wünsche und gerittene Attacken, johlend und energiegeladen, tummeln sich hier nebeneinander.

Was ich von einem Taxifahrer erwarte: Dass er mir nicht seinen Penis zeigen will. (Is eh nicht so viel.)

Stell dir vor, Spermien wären so groß wie Mäuse, man kauft sie zu Dutzend am Markt und isst sie wie schalenlose Austern, mit etwas Zitrone.

Natur, oida! Es ist geil, das Zeug wächst einfach so, man muss nur reinbeißen. Die Erde nährt den Menschen, einfach so, als würde sie ihn akzeptieren.

Hatte schon mal einer die Idee, eine Erkältung lang alles in ein Riesen-Einmachglas zu schnoddern? […] Allein schon die Farben, die das geben müsste! Inneinrichtungs-Experten würden sich um die Schattierungen prügeln.

Diese Fantasie ist ein Wrack, aber hab keine Angst, Baby, ich kann sie fliegen.

Das Gefühl, wenn du bis knapp über den Knien im meer stehst und plötzlich eine Welle anrollt und deinen Schritt kalt erwischt.
Das bin ich.

Die ganze Gefühlspalette, von Begeisterung über Schmerz, Langeweile, Hoffnung, Angst, Lust, Freude, Dankbarkeit, Wut, Nachdenklichkeit, Verzweiflung, Demut etc. ist vorhanden, zu jeder Emotion lässt sich etwas finden, eine Situation, ein Gedanke, ein Wort. Ianina entblößt sich, aber nicht im exhibitionistischen Sinne; sie lässt uns teilhaben an den einzelnen angeschlagenen Saiten ihrer Seele. Eine Entblößung, zu der nur die wenigsten den Mumm, die Kraft und die innere Schönheit besitzen.

Bizarr und zärtlich, ungestüm und wundervoll. Liebenswert, aber die Kopfnuss immer im Gepäck. Ich reihe Beschreibungen haltlos aneinander. Am liebsten würde ich nur Ianina sprechen lassen. Einfach ein paar Tweets, das wäre doch schon eine Rezension, was soll ich denn noch groß sagen. Hinter meinen Beschreiben lauert die Angst, eher zu verschleiern, ungenau zu sein. Nicht genug zu betonen, wie liebenswert und geil, unversöhnlich und sinnlich, heftig, hart und heiter dieses Büchlein und sein ganzer Inhalt sind.

Morgen wird mein Körper zum ersten Mal bestrahlt. Ich kann mir nicht helfen. Ich muss weinen, es tut mir so leid. Was mache ich bloß. Das ist doch grausam. Was muss er noch alles ertragen. Nur, weil der Geist noch nicht sterben will.

Ich möchte alle Kranken am Genick packen und ihre Köpfe ins Klo tauchen, bis sie wieder gesund sind.

Ich will Berührung. Ich will, dass meine Hand sich verflüssigt und du sie trinkst. Ich will tun, was Regen tut.

Nie wollen Menschen zugeben, dass sie vor dem großen Fluss Angst haben. Hinter dem großen Fluss wohne ich.

Keine Sorge, bedingungslose Liebe kann ich noch. Wir sind save.

Irgendwann dematerialsiere ich endlich und werde zur Liebe selbst. Und dann hole ich euch. Jeden Einzelnen.

Die Sehnsucht in diesen Texten, sie hat so wenig mit der üblichen Überhöhung gemein. Es ist eine Sehnsucht, die nicht einmal viel wünscht – und doch alles. Die auf ihre leiseste Stimme zurückgeworfen wurde und doch beharrlich spricht und viel deutlicher, intensiver ist als eine laute Stimme.

Wenn ich Twitter hätte würde ich twittern:

„Lese @blutundkaffees Tweets und denke: mehr Leben, Lebendigeres, ins Leben Stoßendes und alle Ausgänge Verbarrikadierende und gleichzeitig Aufreißendes: unmöglich.“

Das sind vermutlich zu viele Zeichen. Es würde wohl reichen: Ianina Ilitcheva – danke für alles. Alles was war, alles was noch kommt. Wir werden dich nicht vergessen, schließlich bist du immer noch da. Es gibt keinen Stern, der deinen Namen trägt, aber verdammt viele Flecken in verdammt vielen Herzen.

Nur weil ich seltsam bin, musst du nicht daherkreuen und sagen: „Hey, ist okay, dass du seltsam bist, du bist trotzdem okay, sei nicht traurig.“

Like fucking OMG.
Don’t opferize me, Wichser.
Als wäre ich das Aushängeschild für alles, was schieflaufen kann, Natur, Gesellschaft, Atomkraft,
seufz.

Ianina Ilitcheva
@blutundkaffee
2012-2016
Frohmann
2017 · 176 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-947047-39-0

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