Das Staunen über das Unaustauschbare
Das ist eine andere Nancy Hünger. Aus den blassen Fasern Wirklichkeit sind bewegte Gewebe geworden, die sich als Landschaft vor sie hin legen. Die Welt ist keine Simulation und wenn sie mal so mal so und für jeden unterschiedlich sein kann, dann sagt das viel mehr über unsere Perzeption als über das Faktische. „Es ist das gleiche Staunen, das mich als Kind schon überfiel, wenn ich die Hände von den Augen nahm und die Welt, unverändert, einfach noch da war“, mit dem sie in ihre Texte hineintreibt und Gültigkeiten entdeckt und Gelände abmalt und die Farben des Geheimnis. Es ist so vieles da und immer wieder neu da und unsere Gedanken sind nur verschiedenfarbene Folien, die darüber liegen.
»Durchs Gedichteschreiben möchte ich dem näher kommen, was mich umgibt«, schrieb Hermann Lenz einmal. »Dem Gras zum Beispiel und den Bergen, die mich überleben werden. Ich erinnere mich, vertiefe mich in das, was ich gesehen und erfahren habe. So komme ich mir näher.« So kommt sich Nancy Hünger näher. Sie reist in die Ukraine und nach Israel und bringt Texte mit „aus einem erfundenen Land“, wobei das Finden zu einem er-Finden wird, das Land zu etwas, das man in sich zum Gefundenen machen muß. Dabei ist viel von Erde die Rede und von dem, was bestanden sein will. Welt, die auch oder erst recht unter der Sohle noch da ist. Überall „nistet viel Schwarz, / stürzt sich das Licht von Fallhöhe zu Fallhöhe ins Erdreich“. Es gibt bewegende Momente, empathisch durchlebte Szenen, Anwesenheit, die übervoll ist. „Wenn der Körper die offene Bruchstelle der Seele ist“, wird ihm mitgespielt von zwei Seiten und das Selbstverständlichste zu einem Test. Die Nacht ist nicht selbstverständlich, das Spiegeln ist keinem Selbst verständlich. Es sind Dinge, die geschehen.
Wie sie Nancy Hünger über „das Losungswort: Sprache“ in die Singularität des Gedichtes hineinzieht, macht sie zu einer der wichtigen lyrischen Stimmen der Gegenwart.
Hendik Jackson hat in seinem (immer noch unbedingt lesenswerten) Essay über die „Lyrik von Jetzt zwei“ gesagt: „Es geht nicht nur um Affekte, sondern ihren Bezug zur Erkenntnis. Es geht nicht nur um Erkenntnis, sondern auch ihre Fähigkeit, zu affizieren.“ Er wünscht sich und der Gegenwartslyrik damit ein singulares Geschehen im Raum des Gedichts, das vielgesichtiger Welterscheinungen anzieht. Offen im Kontext. Hört sich nach einem Widerspruch an, ist es aber nicht. Das Gedicht als Gebärde des Kontexts muß sich öffnen, der Welt und dem Geschehen im Kontext selbst. Das geschieht dort, wo die Sprache nicht als Besitz betrachtet wird, sondern wie lebendiges Diesseits. Nancy Hünger gelingt es ihre Gedichte und Texte geschehen zu lassen wie Wesen. Instabil, also bewegend. Unaustauschbar und wirklich.
Ringsum reicht den Augen das Salz nicht aus
IVBauernfrauen, riesige Geschöpfe
in dicken, verölten Wattejacken,
unter Tücker aus wild gefranster
Schafwolle die kleinen Köpfe
gesteckt, schoben mit einhändig
Apfelspalten unter den Gaumen,
bis sich das Lippenbändchen unter
dem Eiswind zog, und köpften
mit der anderen, ein Beil als Schwinge,
die Fische im Akkord, stopften mir
den gesprungenen Mund mit Käse
und Wurst, salbten meine Hände mit
Honig, Sahne und süßestem Quark.
Dass du nicht Hunger leidest.Vor dreißig Jahren aß man die Tiere
aus dem Zoo, verschlang sein Totem,
so groß war die Not. Und nun bewohnen
Wölfe, wilde Füchsinnen, den Orkus
der abgezirkelten Stadt.
Fixpoetry 2009
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