Abschaffung der Idee des "Feindes"
Es umfasst der knapp posthum erschienene Band "Retrotopia" des 2017 verstorbenen polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman überraschend viele überraschend ansatzlos zitable Stellen. Dementsprechend häufig drängt sich dem Rezensenten der Gedanke auf, er müsste bloß unkommentiert diese oder jene halbe Seite abtippen, und es bekomme die Leser*innenschaft die Quintessenz des Ganzen serviert; ebenso häufig stellt sich dieser Gedanke dann ein paar Seiten später als notwendige Chimäre heraus, und der Horizont von "Retrotopia" als jeweils immer noch ein Stück weiter als gedacht. Dennoch wird man nicht fehlgehen, wenn man den Verlauf des Buchs zwischen zwei Textstellen "aufspannt". Bauman beschreibt seinen Vorsatz in der Einführung zu "Retrotopia" so –
An (…) [den] wichtigsten[n] Umschwünge[n] in der fünfhundertjährigen Historie moderner Utopien seit Morus werde ich mich im Folgenden orientieren, um die zentralen "Zurück zu"-Tendenzen der gegenwärtigen Phase dieser Geschichte zu untersuchen – darunter insbesondere die Rehabilitation des tribalen Gemeinschaftsmodells, den Rückgriff auf das Bild einer ursprünglichen/unverdorbenen "nationalen Identität", deren Schicksal durch nichtkulturelle Faktoren (…) vorherbestimmt sei (…)
– und kurz, bevor das Buch dann grob 200 Seiten später mit einem länglichen Zitat aus Papst Franziskus' bekannter Karlspreisrede und, daran angeknüpft, einer Zurückweisung der politischen Programme von Huntington, Thatcher et al. endet, formuliert Bauman, eingepasst in eine Kritik am Nationalstaatsbegriff, sein eigenes Gegenprogramm:
Bis jetzt folgten alle Erweiterungen des Maßstabs integrierter politischer Wesenheiten auf eine höhere und inklusivere (und notwendig abstraktere, imaginiertere, der sinnlichen Erfahrung ferner liegende) Ebene im Großen und Ganzen der zunehmenden Reichweite der verfügbaren Kommunikationsmittel und der damit einhergehenden Expansion des Reichs des Möglichen. (…) Allen Schritten bis zu diesem Punkt gemein war jedoch die Neuverhandlung des spaltenden "wir versus sie" und die enge Verbindung zwischen neuen Grenzen der Integration und neuen Grenzen der Separation.
(…) In deutlichem Kontrast zu allen vorhergegangenen (…) Schlachten zur Hebung des Ausmaßes der Integration auf eine höheren Ebene kann bei dieser – der Erweiterung der Integration auf die gesamte Menschheit – weder die Waffe der "Bestimmung eines gemeinsamen Feindes" noch das Werkzeug "wir gegen sie" eingesetzt werden (…) Die wesentlichen Züge des geforderten "kosmopolitischen Bewusstseins" sind weit geöffnete Türen und eine ständige Einladung zur Vereinigung; seine Reife ist gleichbedeutend mit der Abschaffung der Idee des "Feindes", (…) [der] Fundamente[n] der Spaltung in "wir" und "sie".
Wir dürfen den ganzen Rest von "Retrotopia" als Greifbarmachung dieses Programms lesen, als Weg von der soziologischen Behandlung einiger gegenwärtiger Tendenzen am Anfang hin zur Formulierung sozialer Desiderata am Schluß. Zwar beginnt Bauman sein Buch damit, die aktuell beobachtbare faktische Umkehrung jenes Kräfteverhältnisses zu konstatieren, mit dem Ernst Bloch im "Prinzip Hoffnung" vor sechzig Jahren operierte: Nicht mehr konstituiert sich heute das Subjekt der Zeitgenossen aus ihrem Beheimatetsein in einer (expliziten oder bloß impliziten) Utopie, sondern im Gegenteil aus dem nostalgischen Fetischisieren angeblicher früherer Heimaten. Aber von dieser Diagnose gelangt Bauman nicht an einen Punkt der Zurückweisung des Bloch'schen Konzepts von Utopie, sondern im Gegenteil zu ihrer Bekräftigung. Wir bewegen uns hier, mit anderen Worten, firm auf dem wissenschaftlichen Boden fortschrittlichen und utopischen Denkens; und wir können auch, mit "Retrotopia", zur Kenntnis nehmen, dass das Nebeneinander gerade dieser drei Attribute vielen Zeitgenossen Schwierigkeiten bereiten wird – dass er plausibel an gerade diesem Nebeneinander festhalten kann, ist der Reiz des Texts.
"Retrotopia" setzt bei all dem leider – und dies erscheint als eine der Sollbruchstellen des ansonsten überzeugungskräftigen Buchs – als gegeben voraus, dass die Leser*innen, wenn von einer "Rückwendung ins Vergangene", von einer Re-Tribalisierung die Rede ist, sofort das Aufkommen der Rechtspopulisten, ihre Wähler und die sie umgebenden Diskurslandschaften als Hauptthema identifizieren werden. Doch dafür ist der Text zumindest im ersten Kapitel zu "allgemeinmenschlich" gehalten, und z. B. als österreichisch-sozialdemokratisch ursozialiserter Rezensent liest man dieses Kapitel zunächst als unverständlichen Angriff gegen beispielsweise das objektivierbar zutreffende Postulat, "unter Kreisky" sei dies oder jenes besser gewesen; daher fürchtet man ums nächste Eck jenes bekannte relativierende Wischiwaschi der postmodernen Theoretiker, das jede bestimmbare gesellschaftspolitische Position kulturalisiert und so entschärft …
… Bis uns irgendwann dämmert, dass ein solches Wischiwaschi ausbleibt und wir getrost genauer lesen dürfen; Bauman redet genau davon, was es an solchem Kulturalisieren auszusetzen gibt, aber die Bande, über die er seine Themen spielt, macht das schwer zu erkennen.
Die zweite Sollbruchstelle an "Retrotopia" wäre, dass, soweit ich sehe, der Name "Friedrich August von Hayek" nicht ein einziges Mal genannt wird, obwohl es doch nicht zuletzt die Folgen und Früchte von Hayeks Wirken sind, um die es hier geht – und obwohl mit Huntington und Thatcher zwei von Hayeks geschichtlich leider wirksameren Eleven als Baumans ständige Stichwortgeber "von der Gegenseite" dienen. Aber wir können uns den Einfluss jenes großen Ökonomen und Pinochet-Fans auf diese Welt, über die uns Zygmunt Bauman schreibt, vor Augen halten – ohne, dass dem Geschriebenen selbst deshalb etwas abgehen würde.
Kein Problem stellt es indes dar, wenn "Retrotopia" insgesamt, in der Grundlage der vollzogenen Denkbewegung, genau jene Hinwendung "ins bessere Gestern" verdoppelt, die als gesellschaftliche Strömung (mit reaktionärer Dynamik) das Thema und/oder den Anlass der Abhandlung selbst bildet – sie hebt sie nämlich in der Verdoppelung zugleich auch auf, insofern nämlich "utopisches" Denken in ihr plötzlich wieder greifbar wirkt. Dialektik, Bitches!
Der recht langen Rede recht kurzer Sinn: "Retrotopia" bietet uns einen mit den stilistischen und inhaltlichen Anforderungen kritischer Theorie vereinbarten, systematischen und – angesichts der Themenstellung überraschend – unaufgeregten Überblick gerade über die unerfreulichsten ideologischen und sozialen Phänomene der Ära Trump, bzw. der Ära Brexit, bzw. der Ära AfD, bzw. der Ära Helene Fischer.
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