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Kritik

Der Tod in Capri und andere Geschichten

Bei Dörlemann sind die Erzählungen von Iwan Bunin aus den Jahren 1914/1915 erschienen
Hamburg

Der Rahmen der titelgebenden Erzählung mutet modern an. Nach einem arbeitsreichen Leben, das zu erheblichem Wohlstand geführt hat, hat der 58-jährige „Herr aus San Francisco“ genug von der Plackerei. Er will sein Leben genießen. Darum begibt er sich samt Frau und Tochter auf eine mehrjährige Weltreise. Die familiäre Begleitung hält ihn freilich nicht davon ab, auch den recht irdischen Vergnügungen, die der alte Kontinent zu bieten hat, reichlich nachzugehen. Denn der Herr aus San Francisco ist das, was man heute als rüstigen Frührentner bezeichnen würde: agil, genusssüchtig und – zumindest scheint es so – mit einer robusten Konstitution gesegnet. 

Nachdem das Wetter auf dem italienischen Festland zu wünschen übrig lässt, entscheidet man sich für die Überfahrt nach Capri. Im besten Hotel am Platz wird man in gewohnter Manier von einer untertänigen Dienerschaft empfangen. Die schönsten Zimmer werden zur Verfügung gestellt. Die Vorfreude auf neuerliche Genüsse drängt die vorübergehende Mattheit infolge der stürmischen Schiffspassage rasch in den Hintergrund. Doch dann geschieht das Unglück: Beim Umziehen für die Abendgesellschaft befällt den Herrn aus San Francisco ein merkwürdiger Schwindel, der anschließende Todeskampf ist kurz und qualvoll. Und stellt das distinguierte Umfeld vor die Misere, wie schleunigst und diskret den Leichnam zu entsorgen. In einer Sodawasserkiste entledigt man sich des zuvor Hofierten am frühen Morgen durch den Hinterausgang – um ihn im Laderaum eines Ozeandampfers zurück in die neue Welt zu verfrachten.     

Iwan Bunin schrieb „Ein Herr aus San Francisco“ 1915. Die kleine Erzählung hatte maßgeblichen Anteil an seinem späteren Weltruhm. Der Literaturnobelpreis, der ihm 1933 als erstem Russen überhaupt zuerkannt wurde, basierte in Teilen auf ihr. 

Ähnlich wie Thomas Manns zwei Jahre zuvor erschienene Novelle „Tod in Venedig“ – die Bunin beim Abfassen seiner Geschichte noch nicht kannte – handelt es sich bei „Ein Herr aus San Francisco“ um einen Abgesang auf das alte Europa im literarischen Miniaturformat. Steht bei Mann das Künstlermotiv im Vordergrund, der alternde Schriftsteller, der sich am Ende als würdeloser Greis entpuppt und stirbt, ist Bunins Reisender ein nicht minder Genusssüchtiger, der in Zeiten des allgemeinen Niedergangs seinem eigenen Glück hinterhereilt. Oder zumindest dem, was er oberflächlich dafür hält. Mit seinem Geld kauft er sich das Wohlwollen und die Unterwürfigkeit der Menschen in seiner Umgebung. Wie sehr jedoch diese ihn in Wahrheit dafür verachten, wird erst nach seinem Tod deutlich. Symptomatisch dafür steht der italienische Diener, der den Todeskampf des Herrn zur Belustigung des übrigen Personals in grotesker Weise imitiert.

Neben der Erzählung, die dem Buch seinen Titel verleiht, umfasst der Band sechs weitere kurze Geschichten, die ebenfalls in den Jahren 1914/1915 entstanden sind. Die Zusammenstellung ist schlüssig, denn der Erste Weltkrieg bedeutete einen Umbruch in Bunins Schaffen. Er beschränkte sich bei der Wahl seiner Motive nicht mehr nur auf seine russische Heimat. „Brüder“ ist im heutigen Sri Lanka – dem damaligen Ceylon – angesiedelt und verarbeitet die Eindrücke einer Reise, die Bunin im Jahr 1911 unternommen hatte. Er erweist sich darin nicht zuletzt als ein früher Kritiker der kolonialen Zustände, was ihn von etlichen seiner Zeitgenossen – man denke an die verklärenden Berichte eines André Gide aus dem französisch-kolonisierten Norden Afrikas – abhebt. 

In mancherlei Hinsicht wird dadurch Bunins eigener Lebensweg vorweggenommen. Bereits der Erste Weltkrieg hatte in tief getroffen. Die Revolution 1917 führte ihn schließlich ins südfranzösische Exil. In der Sowjetunion war er bis zu seinem Tod ein Geächteter, dessen Bücher nicht erscheinen durften.

Im Zürcher Dörlemann Verlag erscheint die Werkausgabe Bunins in einer elegant-schlichten Leinenedition, die eine treffende Symbiose von Inhalt und Form schafft.  

Iwan Bunin · Thomas Grob (Hg.)
Ein Herr aus San Francisco
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Dörlemann
2017 · 240 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
9783038200475

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