Sinn und Form | 70. Jahr, Heft I | Januar / Februar 2018
Die erste Ausgabe der Sinn und Form im neuen Jahr befasst sich mit nichts weniger als dem verzweifelten Versuch mit und gegen die Dramen der menschlichen Existenz anzuschreiben. Zuerst begleiten wir den Schriftsteller Michail Prischwin (1873-1954) durch einen schwülen, regnerischen Sommer im Jahr 1930 in Russland. Hier werden wir mit detaillierten Beobachtungen der politischen Verhältnisse konfrontiert, in denen der nahende Krieg schon prophezeit wird. Prischwin selbst traut diesen Erkenntnissen (zu Unrecht) nicht, weil er sein Urteil „aus Material bilde, das [s]ein Herz [ihm] zuträgt“ und deshalb nur kleinbürgerlich und unsicher sein kann. Aus Rebellion und nicht aus einer Gesellschafts- oder Geschichtsflucht zieht er sich schließlich in ein privates Idyll zurück, aus dem er seine hellsichtige Zeitchronik anfertigt, der man gerne länger gefolgt wäre.
In Anlehnung an diesen oft auch schwermütigen Autor, soll auf den Beitrag von Sebastian Kleinschmidt über Hartmut Langes ersten Novellenband hingewiesen werden. Lange musste durch Angst, Wahnsinn und Tod gehen, um die Angst als solche zur Triebfeder seines Schreibens zu katalysieren:
Die Angst ist wie ein Bottich Salzsäure, die nicht nur den Narzißmus, sondern das gesamte Selbstwertgefühl zerfrißt. Und im Schreiben schaffe ich es, die Angst zu sublimieren.
Seine Protagonisten bekommen diese Angst zu spüren, für sie gibt es keine Transzendenz, keine Erlösung. Das Schreiben wird zu einem Anschreiben gegen die eigene metaphysische Unruhe und das Schwanken des Realitätsbodens. Kleinschmidts feinfühlige Analyse erlaubt einen ungeschönten Blick in das Leben und Schreiben Langes; sehr zu empfehlen.
Wie schreibt man ein großes Buch? Würde der Prosaautor Lange als Antriebsmotor die Angst benennen, versucht Paul Nolte in seinem Essay über Thomas Nipperdeys „Deutsche Geschichte“ diese Frage aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive zu entschlüsseln. Das geisteswissenschaftliche Schreiben gliedert er dabei in vier Ebenen: 1. Der kognitiver und epistemischer Prozess (was sind die Grundlagen der Erkenntnis?), 2. Der literarische Prozess, 3. Der materiale Prozess (wie beispielsweise das Setting des Arbeitszimmers), 4. Der soziale Prozess (womit das Spannungsfeld zwischen radikaler Einsamkeit und sozialer Koproduktion gemeint ist). Da Wissenschaftler selten ein Tagebuch zum Schreibprozess führen, sei es allerdings schwierig eine verbindliche Rekonstruktion der Textproduktion anzulegen. Das Besondere an Nipperdeys Stil liege vor allem an seinem „aufgeschriebenen Sprechen“. Es erinnere an das antiquarische Bild eines Erzählers, der aus seinem Sessel heraus Geschichten überliefert und nicht von einem Vortragspult aus die Geschichte herunterleiert, weil von einer panoramatischen Vielfalt der Geschichte ausgegangen wird, von einer Nebenordnung von Wirklichkeiten, denn „die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen“. Wer sich diesem Überhang einer mündlichen Überlieferungskultur erfreut, dem sei entweder die Trilogie der „histoire totale“ Nipperdeys empfohlen oder der Band Lebens Werk. Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte. Biographie eines Buches von Paul Nolte, das im Frühjahr erscheinen wird.
Und wie schreibt man ein gutes Gedicht? Hans Krieger widmet sich noch einmal Christine Lavant und glaubt durch ihre Poesie einer Definition nahe zu sein:
Gedichte, wenn sie denn gute Gedichte sind, sind eben keine Mitteilung des Verfassers über seine Befindlichkeit. Sie handeln in subjektiver Brechung vom überpersönlichen Drama menschlichen In-der-Welt-Seins.
Diese Brechung der Subjektivität führe unweigerlich zu einer besonderen Form der Ungegenständlichkeit, die nur wenige Gedichte auszeichnen. Die Lyrik des aus dem Irak stammenden Poeten Sinan Antoon scheint in dieser Sinn und Form-Ausgabe der Definition Kriegers am nächsten zu sein, gemessen allerdings aus einem ausschließlich ungebrochenen subjektiven Standpunkt.
Die Wunde troff
vierzig Tage
dann heilte sieverwandelte sich in ein Herz
und kroch davonum einen anderen Körper
zu suchen
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben