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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„Das Gedicht als Märchenreich ist nicht mehr erhältlich“

Neue politische Gedichte, herausgegeben von Tom Schulz

Der Untertitel sagt es sehr genau: um neue politische Gedichte dreht es sich – um die Art wie sich unser verhunztes Gemeinwesen in die Sprechweise des Einzelnen mischt, und um den ganzen Scheiß, den wir als Menschenwerk in die Welt stellen und um den niemand drum herum kommt. Gute Lyrik ist gegenwärtig und sowieso politisch. Anwesenheit ist politisch und deshalb begrüßen Politik und Wirtschaft den entfernten (und auch entkernten) Menschen, der auf einem temperierten Platz vor seiner Konsole sitzt und verwickelt ist, ein jeder in sein eigenes Rollenspiel, Teil der Magnetspule eines Beschleunigers. Die Lyrik der Gegenwart ist viel tiefer in den verknoteten Widersprüchen des apotheotischen Wahns anwesend und gegen sie präsent als jede Dichtkunst vor ihr und hat längst die ehemals avantgardistisch gedachte, rein sprachartistische Übung des sinnfreien Dichtens als einfaches Stilelement assimiliert und damit sinnvoll überwunden. Das Nichtssagen ist Schnee von gestern, den sich leisten kann, wer nicht hier sein will. Wesentlich ist, was das Hiersein bedeutet.

So verstehe ich Tom Schulz, der mit „alles außer Tiernahrung“ eine wundervolle Sammlung Gedichte herausgegeben hat, die ganz bestimmt nicht irgendeinem Klischee entspricht, sondern die dort hinhört, wo der Einzelne anwesend ist. Der Einzelne ist nämlich derjenige, der nicht nur sich selbst abbildet, sondern – auf seine Weise - zum Abbild des Kollektivs wird, sobald er anwesend ist und sich behauptet. Er bekommt einen Orden mit Applaus oder den schwarzen Peter auf die Nase gebunden und als zoon politikon wirkt er zurück. Da wir nicht gleich sind, versuchen wir uns abzugleichen. Unsere Eudaimonia mit dem unsichtbaren Run des Kollektivs. Dabei entsteht Politik. Das Gemeinwesen will organisiert sein und hier beladen wir uns mit Schuld, ob wir wollen oder nicht, kollektiver Schuld. Die polis schützt uns heutzutage nicht mehr, sondern liefert uns aus, verstrickt uns, schmeißt uns in die Spur unaufhaltbarer Zerstörung. So sieht’s aus. Alles andere ist gelogen. Und leider hängen die Lügen wie falsche Lampen rundum im Dunkel der Zeit. Unser Leben vermischt das Licht der eigenen Wahrheit mit dem Licht der kollektiven Lügen. Und in diesem Licht, das heute ganz andere Spektren besitzt als jedes Licht zuvor, schreiben wir Gedichte und schaun sie uns an. Insofern ist jede Lyrik, die über echte Angelegenheiten und wirkliche Zustände reflektiert, politisch. Tom Schulz hat das wunderbar herausgearbeitet und verabschiedet die falschen Vorstellungen und fehlgeleiteten Ideen einer „politischen Lyrik“ in die Welt von gestern. Heute brauchen wir anderes und längst ist anderes wahr.

Die zeitgenössischen Lyriker/innen, die Tom Schulz in dieser Anthologie präsentiert, haben alle gemeinsam, daß sie nicht wegschauen, nicht flüchten in die Sprachartistik, weil sie vielleicht die Ambivalenz und den Druck der Widersprüche nicht aushalten. Sie nutzen sehr geschickt das Experimentierfeld Sprache, das jedes Gedicht von Natur aus ist, weil das Sinn macht, erzeugt, aufbricht. Das gehört zum Jetzt und deshalb hierher. Die Schalen anklopfen, die Verpackung durchleuchten, zerreißen, hingucken. „Das Gedicht als Märchenreich ist nicht mehr erhältlich“, schreibt Tom Schulz im Vorwort. Und eine Utopie auch nicht. Es bleibt nur das, was wir sind. Walter Fabian Schmid hat in seiner Besprechung des Buches im poetenladen gewünscht, „dass vielleicht ein bißchen mehr hinterfragt, als immer nur ausgestellt, dass vielleicht auch mal Lösungen angeboten werden – wenn es die Politik schon nicht tue“. Das kann die Lyrik nicht. Sie kann fragen, aufblättern, entfalten, anschauen was ist; die Entscheidung, was daraus wird, trägt jeder Einzelne und auf seine Weise zurück in die polis.

MONIKA RINCK

wem das auge tränt

die harte arbeit des reisens – travel und travail
erst angelockt, dann abgewehrt, 900 flugkilometer
pour trouver les enfers. und wo das auge, wie das auge,
wann das auge, wem das auge, wessen auge tränt.
das auge schaumig gehauen – stell dir vor! –
den guten menschen aus mir heraus. so ists passiert,
das heißt, quer über mich hinüber passiert. was bleibt:
hinleging, in den dämmer zurück und daraus hinaus
mit nichtigem gepäck, ich bringe nichts, und ich versichere,
ich habe nichts bekommen. auf den vieren, gemeint
sind die knie, von denen jeder mensch hat viere. vier,
die sichtbar sind und vier in der eigenen demut versteckt,
und die demut dann wieder versteckt, im hotelsafe
oder der hoteleigenen sauna. im sog. sauna-safe.
hineinstaffiert, hinausstaffiert, denn vier und vier sind vier.
ich nenne dies: gewalt im gewand von schwäche, ab jetzt
will ich alles zurück und wenn einer in meinen augen
etwas anderes sieht als verachtung, dann täuscht er sich.
rasende schatten, große bitten und pflichtfreie flaschen
vom flughafen, vom vierfüßlerstand, travel und travail.

Die Politik hat den eigenen Fragen Reservate zugewiesen, die es zu sprengen gilt. Die Welt gehört auf eine andere Weise uns, als es uns das Kollektiv glauben machen will. Davon erzählen die Gedichte von: Marcel Beyer, Tom Bresemann, Ann Cotten, Daniel Falb, Karin Fellner, Gerald Fiebig, Franzobel, René Hamann, Guy Helminger, Simone Hirth, Adrian Kasnitz, Theresa Klesper, Björn Kuhligk, Thomas Kunst, Stan Lafleur, Norbert Lange, Monika Rinck, Marcus Roloff, Angela Sanmann, Stefan Schmitzer, Sabine Scho, Tom Schulz, Florian Voß, Achim Wagner und Ron Winkler.

Tom Schulz (Hg.)
alles außer Tiernahrung
Rotbuch
2009 · 144 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
978-3-867890793

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