Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Gang 7 ist ein Korridor aus Lampen

Akzente 1/ 2018. Das Böse
Hamburg

Das Böse lautet das Thema der ersten akzente-Ausgabe im Jahr 2018. Von Jo Lendle mit Nora Bossong herausgegeben, befasst sich das Heft auf eigenwillige Weise mit dem zugegebenermaßen unerschöpflichen Thema. In der Hauptsache kommen Hanser-AutorInnen zu Wort, 4 Frauen, 15 Männer, – wie gehabt etwas indolentes Verhältnis... Philosophisch-essayistische Texte sind dabei, Rüdiger Safranski z.B. und als Highlight die letzten, sehr verdichteten Seiten von Umberto Ecos Vermächtnis, einem Ausschnitt aus Auf den Schultern von Giganten, der ein wenig Gerichtetheit in das potpourri davor bringt, allerdings auch alleine nur dadurch, dass er die einzige Stimme ist, die sich so etwas wie Überblick, Fassung und Komposition zutraut. Er behandelt eines seiner Stammthemen, die Literaturphänomenologie des Bösen/ hier: Hässlichen mit einer belesenen und kommentierenden parlando-Collage. Mit Abstand der informativste Beitrag. Die literarisch überzeugendsten Beiträge stammen von Hannes Bajohr, Simone Buchholz, Eberhard Rathgeb und Milo Rau. Sie alle zeichnet aus, das gilt auch für Georg Leß' Gedichtzyklus, mit fester Perspektive und definiertem Standpunkt einen Ausschnitt dieser bösen Unendlichkeit des Themas anzuschneiden, und weder im Klischee zu baden noch alles und die entferntesten Dinge unterbringen zu wollen. Die fünf verstreuten Portraits (?) Enzensbergers wirken in diesem Zusammenhang wirr und beliebig, wenn auch gut lesbar. Den übrigen Gedichten und Ausschnitten, persönlichen Betrachtungen etc. fehlt es an Wucht und ihrem Platz im Heft an Schlüssigkeit. Zurück bleibt eine nicht ganz ausgegorene Ausgabe zu einem Urkomplex, wenn nicht dem Thema aller Themen überhaupt im sogenannten Anthropozän, das hier leider etwas leichtfertig weggegeben wird.

In Sei so lieb konfrontiert Simone Buchholz die nüchtern geschilderte Streifenfahrt zweier PolizistInnen mit kursivierten Tatberichten von zuletzt durch die Öffentlichkeit treibenden Verbrechen, beispielsweise "U-Bahntretern" oder einem fast beiläufig erzählten (zusammengefassten) Ehedrama ohne Überlebende. Obwohl durchschaubar, wirkt dieser Originaltext wie ein Schlag ins Gesicht. Er braucht nicht mit, auch durch dieses Heft geisternden, Anrufungen jener totgerittenen Banalität um sich zu werfen – um mit ihren Mitteln genau jene Erfahrung zu erzeugen: das ganze Heft auf dreieinhalb Seiten.

Hannes Bajohr steuert einen gutfunktionierenden uncreative writing Text, Töten (Korpusfabel III), bei, dessen Konzept an sich schon völlig sprechend ist: alphabetisch sortierte Belegstellen für das Lemma "töten" in den Grimm'schen Kinder- und Hausmärchen ermittelt. Die Ergebnisse haben eine ganz eigene schockierend-aberwitzige Qualität:

Der Knecht nahm sie in seinen Mantel, ritt in den Wald und wollte sie töten. Der König hieß in jähem Zorn den Grafen töten. Der König ließ seinen Rat versammeln und beschloss, den dritten Teil des Volkes töten zu lassen.

Dramatiker Milo Rau schreibt einen kurzen Text: Sie wissen ja, wie das in den Träumen ist. Nach einem so-lala Anfang ist der Text plötzlich überhaupt nicht mehr so-lala, und man spürt, der Anfang war es keineswegs. Es geht um einen Traum, der sich eher in Richtung Mythos bewegt, den man zu kennen glaubt, der dennoch unaufgelöst (bis auf das erwartbare so-lala Ende Aufwachen) in mehrdeutiger Welt, die absolut unsere eigene sein könnte, spielt. Natürlich ist das kein so-lala Ende, sondern man wünscht sich Aufwachen auch für die gesamte Menschheit realiter.

Noch vor dem rückenden, gewitzten Eco-Text kommt von Eberhard Rathgeb jene äußerst gelungene Meditation über Eichmanns Mund, betitelt Lieber Herr Eichmann. Hier wird selbstredend erneut das Thema Banalität aufgegriffen und doch ist es, so wie Rathgeb es macht, äußert originell und überraschend. Bescheiden und persönlich gefärbt, verspürt der Autor des Textes den Wunsch, Eichmann einen Brief zu schreiben, um unter anderem "mit Rechten zu reden", einem heutigen Gebot entsprechend. Doch es endet hiermit:

Dann wurde Eichmann vom israelischen Geheimdienst aus Argentinien nach Jerusalem gebracht und dort in einen Glaskasten gesetzt, und alle Welt schaute ihn an, und er musste davon ausgehen, dass alle Welt ihn verachtete, ein Ungeheuer, und da musste er sich, denke ich, zum ersten Mal wirklich allein gefühlt haben, in einem umfassenden, ungeheuerlichen Sinne, weil er sich, als jemand, der ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatte, außerhalb der Menschheit gestellt hatte und jetzt weit weg von allen Menschen stand. Diese Erfahrung ist für ihn neu gewesen, und es wird ihm nicht zu den Menschen zurück geholfen haben, dass er in seiner Gefängniszelle sehr viele Seiten Papier vollschrieb, auch wenn er vielleicht immer wieder kurz geglaubt haben mag, dass er auf diese Weise zurück zu den Menschen kommt, warum sonst hat er diesen Monolog angefangen, wenn nicht in der Hoffnung, dass da vielleicht jemand sei, der ihm zuhören würde, den er sich geneigt machen konnte. Aus dieser Erfahrung des Alleinseins ist dann, denke ich jetzt, diese komische Mundbewegung entstanden, die so aussieht, als schöbe er seinen Mund beiseite, um zu zeigen, dass er keinen Mund hat, dass das, was so aussieht wie sein Mund, nur sein alter Mund ist, der zu keiner Rede unter Menschen mehr taugt, zu keiner Verständigung, weil es nichts mehr zu sagen gab, das verstanden würde.

Jo Lendle (Hg.) · Nora Bossong (Hg.)
Akzente 1 / 2018 Das Böse
Hanser Verlage
2018 · 92 Seiten · 9,60 Euro
ISBN:
978-3-446-25914-0

Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge