Die Bars von Atlantis
Die formelhafte Frage, was uns der Dichter damit sagen wolle, erwartet meist eine Antwort, die kürzer ist als der Gegenstand der Interpretation, eine bündige, griffige Antwort. Jeder Leser hat wohl schon die seltsame Formel schräg beäugt und sich über solche Forderung gewundert. Dass die Deutung kürzer ausfällt als der interpretierte Text, ist ein Ding der Unmöglichkeit: ist doch gerade die lyrische Aussage auf Kürze berechnet, die lyrische ist die knappe Ökonomie. Aber gerade der lyrische Text ist es, der das Verlangen nach normalsprachlicher Erklärung laut werden lässt – auch dort, wo die Gleichung „je knapper je undeutlicher“ nicht aufgeht. Gewiss ist es zuweilen so, dass die Forderung, die Deutung möge kürzer ausfallen als der interpretierte Text, ein frommer Wunsch ist. Aber im vorliegenden Fall ist das nicht so. Durs Grünbeins Essay „Die Bars von Atlantik“, aus zwei Reden an den Universitäten von Berlin und Bologna hervorgegangen und nun bei Suhrkamp erschienen, ist so kenntnisreich im Inhalt und so angenehm im Tonfall, dass man sich den schmalen Band gut und gerne fünf mal so dick gewünscht hätte.
Was interpretiert Grünbein in diesem Essay mit dem verlockenden Titel? Er untersucht ein Gedicht, genauer: nur einen Vers von Durs Grünbein. Dass der Essay so gelungen ist, liegt nun aber nicht daran, dass Grünbein seinen eigenen Vers „besonders gut kennt“. Das könnte man vermuten, das muss aber nicht der Fall sein, auch der Autor weist ausdrücklich darauf hin. Grünbein ist vielmehr grundsätzlich ein guter und belesener Leser und ein eleganter Essayist. Er versteht sich auf Verknüpfungen und Denkbewegungen, verbindet im harmonischen Wechsel Lebenswelt und Literaturkosmos, und er hat sich vor allem nicht zu viel vorgenommen. Ein Vers im Kontext eines Gedichtes auf ein schlankes Büchlein interpretatorisch schweifende Prosa: das ist ein wunderbar getroffenes Mischverhältnis.
Der besagte Vers stammt aus dem Gedicht „Kosmopolit“, das im Band „Nach den Satiren“ (1999) enthalten ist, und lautet:
„Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle“.
Von diesem Vers ausgehend spannt sich ein weiter Assoziationsraum auf, und Grünbein legt recht zügig eine Marschroute durch die Motivgeschichte fest. Kaum ist vom Vorgeschmack, nur bedingt von der Hölle die Rede: die Reise steht im Zentrum, und mit ihr der große, kontinuierliche Topos vom Leben als Schifffahrt und der Schifffahrt der Dichtung. Die Geschichte dieses Topos ist lang und voller Seitenarme, all die Belegstellen ergeben selbst schon wieder ein veritables Meer. Die berühmten Studien und Passagen von Curtius oder Blumenberg bleiben natürlich nicht unerwähnt. Mit kurzen, kräftigen Schritten schreitet Grünbein diesen Bezirk ab, um später einige gezielte Probebohrungen vorzunehmen, so etwa bei Baudelaire, Homer, Lautréamont, Eliot und Dante. Grünbein spürt hier den Wendungen nach, und reichert den Kontext an, der sich zumeist stillschweigend auf den Zentralvers des Essays bezieht.
Schließlich aber lässt er die Geschichte der Schifffahrtsmetapher auch in unsrer Gegenwart stranden. Technikmüdigkeit, Mondraketen, Tankerkatastrophen, ein allmählicher Rückzug des Schiffers, im U-Boot und im Kapitän Nemo, all das wendet das einst enthusiastisch angenommene Wagnis ins Negative. Auch das Reisen selbst, das häufige und routinierte, das im Begriff des Kosmopoliten im Gedicht wie im Essay präsent ist, erscheint verflacht, ins Fließband gestellt. Wie es in vorgreifender Zusammenfassung heißt: „Es wird um die Figur des Kosmopoliten gehen, den von avanciertester Transporttechnik umhergewirbelten, hypermobilen Menschen unserer Tage“.
Aber gerade von Reisen bringt Grünbein viele Fundstücke in seinen Essay, Erinnerungen, Bilder, zufällige und solche aus dem Bildungskanon, Träume, Fragmente; Reanimationen alter Bilder, Traditionslinien des neuen Verses. Von hier aus ergeben sich auch viele der interessanten, entlegenen Seitensprünge von der kulturhistorischen Marschroute – und diese bekommen so Gewicht in der Umkreisung des Verses.
Es versteht sich fast von selbst, dass man am Ende nicht säuberlich aufgereiht all die Absichten des Autors, die sich mit dem genannten Gedicht und dem genannten Vers verbinden, benennen und verbuchen kann. Was den Essay dennoch zu einer guten Interpretation macht, ist, dass er dem lyrischen Text dieses Vorrecht und diesen Rückzugsraum würdigend vorbehält. Ausgehend von dem Vers entspinnen sich für die Dauer eines langen, aber nicht zu langen Vortrags Gedanken, Gedankenstränge und Wege durch den Text, durch die Texte. Da ist viel Aufschluss, viel Bildung, viel entlegene Information, die nun neu versammelt und arrangiert ist. Ob nun klar geworden ist oder nicht, was uns der Dichter mit diesem einen Vers sagen wolle, wir haben ihm zu danken, was von ihm seinen Ausgang nimmt.
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