Handschrift im Gezweig, die sich in Watte hüllt
Der vorliegende Band bildet den Band 7 einer auf zehn Bände veranschlagten Jiří Gruša-Werkausgabe. Er versammelt eine Auswahl der frühen Gedichtbände der 1960er Jahre, wie auch die späteren Texte, die bis zur „Samtenen Revolution“ in der ČSSR lediglich im Samisdat, also im Selbstverlag, erscheinen konnten. Alle Gedichte werden hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt.
Deutlich zeigt sich, dass bereits in den frühen Gedichten Jiří Grušas Temperament angelegt ist. Nach seinem abgeschlossenen Philosophie-Studium an der Prager Karls-Universität hatte sich der junge Gruša mit unverkennbaren Engagement in die Literaturdebatten eingemischt, die in seinem Land während der vorsichtigen kulturpolitischen Öffnung zu Beginn der 1960er Jahre noch möglich waren. Mitte der 1960er Jahre hatte Jiří Gruša in der Literaturzeitschrift »Tvář«[Gesicht, Antlitz] Schriftsteller wie etwa auch Petr Kabeš, Jan Lopatka, Jiří Pištora oder Václav Havel um sich versammelt, welche das auferlegte Diktat eines »sozialistischen Realismus« als unakzeptabel abgelehnt haben.
Dies war keine bloße Marotte oder Opposition um jeden Preis sondern berührte den Kern, das Wesen der Poesie. Anläßlich seiner Dresdner Poetikvorlesungen im Frühjahr 1999 hielt Jiří Gruša dazu fest:
„Das Schreiben also bloß als Teilnahme an einer planmäßigen Weltverwandlung? Nein, danke! Ich konnte das physisch nicht. Ich wollte Konfigurationen, die niemand vorzusagen hat und kein anderer erlebt“.
Exemplarisch für Grusas frühe Schaffensphase finden sich, wie etwa im Gedicht „Dort blieb ein kahler baum“ Formen der Ich-Findung, die sich aber immer im Dialog mit Mitmenschen oder auch der engeren Umgebung entwickeln:
Dort blieb ein
kahler baum
hüllte sich in watte
damit er dir verschwieg
er sei fatumdie handschrift im gezweig
lief jedoch besonders quer
alles was geformt war
schon halbierte sie vorher
Sehr bald schon hatte Jiří Gruša in seinen Arbeiten die real existierenden Absurditäten im Lande Franz Kafkas aufgegriffen. So finden sich in vielen in der ČSSR geschriebenen Gedichten wie etwa in „Verraten“ oder „Martern (er hackt das eis und lockt den fisch)“ nicht nur Motive der Qualen sondern auch der existentiellen Doppelbödigkeit. Und in zunehmendem Maße werden dunkle Ahnungen in verschlüsselter Weise sexuell konnotiert. Scheinbar harmlos beginnt das Gedicht „Dunkles etwas“ mit den Versen
wohin vergeht dies
dunkle etwas
fragt das fallen
seinen fallzu gier vergehts (…)
um sich über viele Strophen hinweg zu einem zunehmend verzweifelten Monolog erotischer Phantasien zu steigern, welcher zugleich, ganz Provokation, der emphatischen Anrufung Gottes in einem Gebet gleicht.
Spätestens nach der gewaltsamen Niederschlagung des sogenannten „Prager Frühlings“ im August 1968 hatte sich auch die Lage von Jiří Gruša verschärft. Dem Veröffentlichungsverbot im Jahr 1970 folgten inkriminierende Anschuldigungen und 1978 eine erneute Verhaftung. Ungeachtet der zu erwartenden neuerlichen Schikanen unterzeichnete Jiří Gruša die Bürgerrechtserklärung CHARTA 77. 1981 war Gruša nach einem genehmigten Studienaufenthalt in den USA die Wiedereinreise in seine Heimat verwehrt worden. Jiří Gruša lebte fortan in Bonn, der damaligen Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.
In seinen Gedichten aus den turbulenten Jahren als tschechischer Dissident und später als unfreiwilliger Exilant finden sich zusehends politisch ausgerichtete Anmerkungen wie auch biographische Einsprengsel aus Grušas böhmischer Heimat. Das Widmungsgedicht „Fürs Tschechenland“ für den am 14.03.1979 verhafteten Dichterfreund Václav Havel endet mit Versen, in welchen sich der gläubige Katholik Jiří Gruša von der berühmten Trinität „Glaube, Liebe, Hoffnung“ aus dem Korintherbrief des Neuen Testaments zu einer versöhnlichen Zuversicht anregen ließ, ohne die Bedrücktheit jener Zeit auszuklammern:
er spreche in der sprache
bitter wie die liebe
versöhnlich wie die liebe
und hoffend
wie die liebe hofft
Ab 1981 sind Grušas Verse zuweilen von einer Mischung tschechischer und deutscher aber auch englischer Sprachanteile gekennzeichnet. Neben der neuen Erfahrung in der Fremde und des Exils hatte hierfür auch die Begegnung mit dem lange als verschollen geglaubten tschechischen Dichter Ivan Blatný inspirierend gewirkt. Gruša hatte mit seinem deutschen Freund Jürgen Serke, welcher darüber in seinem Band „Das neue Exil: die verbannten Dichter“ berichtete, im Herbst 1981 Ivan Blatný in England aufgesucht, wo der Altmeister der lyrischen Sprachmischung seit 1954 in einer psychiatrischen Anstalt lebte.
Insofern erklärt sich, warum der Übersetzer Eduard Schreiber in der zwischen 1973 bis 1989 entstandenen Sammlung „Grušas Wacht am Rhein oder Wanderghetto“ „einen langen Anlauf zu einem großen Sprung“ auszumachen vermag. Ein Sprachwechsel schien sich anzubahnen. Nach einer Phase des langsamen Überganges wurde dann 1991 tatsächlich mit „Der Babylonwald“ Jiří Grušas erster deutsch geschriebener Gedichtband vorgelegt.
Es ist dem Herausgeber der Jiří Gruša-Werkausgabe Hans Dieter Zimmermann hoch anzurechnen, daß er Eduard Schreiber als Übersetzer des vorliegenden Bandes „Tschechische Gedichte“ gewinnen konnte. Er hat es in überzeugender Weise vermocht, die oft sperrige und kantige Lyrik Jiří Grušas, die alles andere als einfach zugänglich ist, in angemessener Weise in das Deutsche zu übertragen. Höchst aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine ausführliche „Nachbemerkung“ von Eduard Schreiber, der sich auch Radonitzer nennt. Neben einfühlsamen Hintergrundinformationen zu Jiří Gruša fallen insbesondere Anmerkungen zu Herausforderungen lyrischer Übersetzungen ins Gewicht, die an ausgewählten Beispielen eindrucksvoll dargestellt werden. Als Vermittler und Übersetzer wichtiger, wenn auch oft in der Wahrnehmung am Rande stehender tschechischer Dichter wie Emil Juliš, Ludvík Kundera, Jiří Mahen oder Milada Součková hat sich Eduard Schreiber längst einen Namen gemacht.
Während seines Exils in der Bundesrepublik war Jiří Gruša zunehmend zu einem deutsch-tschechischen Brückenbauer geworden, der sich in unzähligen Reden, Beiträgen und Interviews zu Wort meldete. Auch die Herausgabe der 33 Bände der „Tschechischen Bibliothek“ in der Deutschen Verlags-Anstalt beruhte auf seiner Idee. Nach der „samtenen Revolution“ vom Spätherbst 1989 fungierte der überzeugte Mitteleuropäer Jiří Gruša im diplomatischen Dienst zeitweise als Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik Deutschland und später in Österreich. Seit 2004 hatte er fünf Jahre als Präsident des Internationalen P.E.N.-Clubs gewirkt und sich in seinen letzten Jahren als Direktor der Diplomatischen Akademie Wien einen Namen gemacht. Ämter, die der Quintessenz eines lebenslangen Homme de lettres entsprachen.
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