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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

"Going east, Mister?"

Hamburg

Der Brueterich-Band von Dieter M. Gräf heißt "Falsches Rot". Wir können also schon erahnen, wohin die Reise gehen wird: Sagen wir: Historiographie durch Lyrik, auf ungefähr 200 kongenial gelayouteten Seiten: eine museal in drei "Räume" gegliederte Schau, über (den Umstand, dass der) Sozialismus als Utopie und als Prozess seiner eigenen Verwirklichung (offenkundig in der Systemkonkurrenz des zwanzigsten Jahrhunderts weder in den Staaten noch in den Bewusstseinen gesiegt hat, und jetzt wäre natürlich interessant, wo im Einzelnen der Fehler lag). Das ist jetzt inhaltlich im Jahr 2018 nicht die originellste geschichtsphilosophische Spielvorgabe, aber Gräfs Buch funktioniert, weil es diese Vorgabe, als Explizierte, auf zwei Arten erdet:

Erstens über das konsequente Durchziehen poetischer Sprachorganisation – das führt hier zu einer dauerhaften Unschärfe zwischen Rhetorik-als-Sound und Sound-als-Rhetorik – und zweitens, noch wichtiger, über die Fokussierung auf bemerkenswert detailliert recherchierte und klar bestimmte Schauplätze, Stories und Protagonisten:

"Raum eins" beginnt mit Münster, 1535 (Hinrichtung der Propheten des "Täuferreichs von Münster"); dann: herabgewirtschaftete Orte aus den mehr oder weniger umkämpften Restemassen des Ostblocks, denen neben dieser Gegenwart auch gemeinsam ist, als Belagerungs-,  Verbrechensschauplatz dauerhaft konnotiert zu sein – Kaliningrad, Auschwitz, Sarajevo.

"Raum zwei": Ein starkes, überzeugend unfreundliches Langgedicht über Johannes R. Becher

(…) Reichstagsmandat,

das er nicht mehr antreten kann. Muss, Freunde sammelten für ihn, unter
falschem Namen – Herr von Frankenberg – fliehn; das J. R. Becher-Schild
seines Schneiders in der Fluchthose. Brünn; Moskau. Radikalinskisound:

aus & vorbei: Die Partei will Volksfront statt Sozialfaschisten. Der Dichter
reift, zum gut gebauten Sonett – doch stets, wenn was honorig klingt,
ein großer Rest zum Himmel stinkt. Lief zuerst nicht schlecht. (…)

– steht als Motto vor dem Hauptkapitel des Buchs, dem naheliegenderweise zweigeteilten über Deutschland. Der DDR-Teil darin beginnt dann mit der Frage "Wo bitte ist das Kombinat?", und jener Text klingt an einer Stelle so:

(…)

Warum, frage ich die
Grenzuniform,
darf ich
nicht in die Deutsche
Demokratische Republik
einreisen? Sie spreizte alt
väterlich ihren rechten
Arm in den Zeigefinger
hinein: Der Westen ist da
drüben.
Kiffender Zappa
westen, von Todesstreifen
ausgeleuchtete David-Bowie-
Stadt, linksradikaler
Westen-im-Westen, ewig
unter fünf Promille & high
Altnazi- und Palästinenser
tuchpornowestern, hier
bin ich. (…)

Es ist kein Zufall, wenn das nach Brinkmann klingt: Der "westdeutsche" Teil im Gräfs "Raum Zwei" besteht aus Gedichten über die RAF, nebst einem "Nachtrag, Rolf Dieter Brinkmann betreffend". Hier wird in drängenden, wie gesagt wohlrecherchierten biographischen Skizzen mit der Frage "Aktion vs. Theorie" auch, sozusagen in Obertönen, der Formalismusstreit ein X-tes Mal durchgenommen; hier Banküberfall, da Villa Massimo, hier das schreckliche Sprech der Bekennerschreiben, da die wirklichradikale Sprache; aber Autos und Unfälle allenthalben, und

Seltsam, nicht wahr, dass es vorn kaum Überlebende gab:
aufbegehrende, widerborstige Körper

(…)

Der dritte Raum, wie wir vermuten dürfen, die Gegenwart, beginnt mit einem kurzen, fett über die Doppelseite gesetzten Sinnspruch "für Didier Eribon" (und vermutlich auch von ihm, oder?):

die Busfahrer stammen von den Busfahrern ab

und ja doch, die Klassengesellschaft als Selbstläufer, sie verschärft sich wieder, steuert werweiß wo hin, alles klar; auch: ja doch, neben Brinkmanns "Westen" von damals "macht" auch die Utopie in diesem Westen "weiter", z. B. in Leuten wie Eribon, selbst, wenn sie/er derzeit zu nicht viel mehr kommt als zum genauen Beschreiben des eigenen Problematischseins.

Es ist schließlich der sehr unaufgeregte und neben den vielen langen investigative-poetry-Gesängen des Bandes fast unscheinbare Text "Fast verschwand", in dem wir ggf. das wirkliche Fundament dieser ganzen Geschichtsschreibung erkennen dürfen: Das Gedicht über das Verhältnis zum toten Vater (damit: zur SPD) und die lebende Mutter. Es ist schwer vorstellbar, dass Gräf an dieser Stelle nicht zumindest auch jene Stelle aus der "Ästhetik des Widerstands" mit-denkt, mit-dichtet, wo Vater und Sohn im Pariser Hotelzimmer, zwischen spanischem Bürgerkrieg, deutscher Hitlerei und stalinistischen Schauprozessen zerrieben, die Parteilichkeiten klären … und wo dann nicht klar ist: Ist das ein Traum des Protagonisten? Eine entstellte Erinnerung? Wo sind wir gerade?

(Und dann: endet das ganze in einem Liebesgedicht – "Fliegerin" – sozialgeschichtlich eingebettet und sexy … kann man so lassen …)

Dieter M. Gräf
Falsches Rot / Gedichte und Fotografien
Brueterich Press
2018 · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-945229-19-4

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