Linker Blindspot: Kulturelle Aneignung
Alle behaupten immer, man dürfe Orte erst scheiße finden, wenn man auch dort war, und ich merkte, dass die Fusion tatsächlich besser bei mir weggekommen wäre, wäre ich zu Hause geblieben.
Über viele Jahrhunderte ist das/der/die so bezeichnete „Fremde“ nachdrücklich verteufelt worden und gleichzeitig wurde (im Rahmen einer kontrollierten, assimilierenden Praxis) gerne und oft sein/ihr exotischer Reiz beschworen und in dieser vereinfachten Form – der Form der Verheißung, des Unbändigen, Unzähmbaren, „Wilden“ – in die eigene Kultur überführt: als Gegenbild, als Phantasie, als Klischee, als Spielplatz.
Europäer*innen (und europäische Autor*innen) haben bspw. über Jahrhunderte hinweg – so beschreibt es u.a. Toni Morrison in ihrem Buch „Die Herkunft der Anderen/The Origin of Others – afrikanische Kulturen und Bevölkerungen (und die vieler anderer ex-kolonialen Regionen) entweder bagatellisiert oder mythologisiert – sie mussten entweder als Anschauungsmaterial für eine Überlegenheit der weißen Rasse herhalten oder wurden als Projektionsflächen missbraucht, auf denen (weiße) Europäer*innen die Abgründe ihrer eigenen, dunkelsten Phantasien auslebten, angereichert mit rassistischen Klischees oder diese Klischees erschaffend.
Im Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus, der Globalisierung (und dem damit einhergehenden Massentourismus) und der weltweiten Vernetzung ist diese Praxis nicht verschwunden – noch immer wird verteufelt und angeeignet was das Zeug hält. Nur wird beides jetzt noch professioneller vermarktet und beide Phänomene entwickeln eine noch größere Eigendynamik. Unsere Gesellschaften und Systeme, unsere Mode und unser Lifestyle, sind von Rassismus, kultureller Aneignung und klischeehaften Vorstellungen durchdrungen, ob es uns gefällt oder nicht. Das beginnt beim Mohr im Hemd und endet noch lange nicht bei den Dreadlocks.
Das Tragen von Artefakten, Symbolen und Frisuren passiert schließlich in keinem sozialen Vakuum, sondern in einem rassistischen System, in dem etwa Dreadlocks oder Bindis bei weißen Leuten als cool, innovativ und weltoffen gewertet werden und bei Schwarzen Menschen sowie People of Color als rückständig, unhygienisch und anderweitig negativ. Das hat etwas mit den Machtstrukturen in unserer Gesellschaft zu tun, in der eben nicht alle gleich behandelt werden. Die Utopie wäre natürlich, dass sich Kategorien wie Gender oder Race auflösen, doch da sind wir noch lange nicht.
Hengameh Yaghoobifarah, Autor_in und Journalist_in, beschreibt verschiedene Formen einer solchen unhinterfragend aneignenden Praxis anhand von Eindrücken beim Besuch des Musik (sowie Performancekunst)-Festivals „Fusion“. Der Artikel erschien bereits 2016 im Missy Magazine und wird hier mit einer zusätzlichen Stellungnahme – anderthalb Jahre später geschrieben und auf die Reaktionen eingehend, sie reflektierend und dekonstruierend – abgedruckt (leider steht nirgendwo im Heft, ob der Originalartikel für diese Publikation überarbeitet wurde; eine editorische Notiz wäre schön gewesen.)
Wir schreiben das Jahr 2016, und bei der Mehrheit der Festivalbesucher_innen ist nicht angekommen, dass Red-, Black-, Brown- und Yellow-Facing unterste Schublade in der Garderobenwahl sind.
Die Kritik, die Hengameh Yaghoobifarah anbringt (und auch die Stellungnahme im zweiten Teil) ist gnadenlos, kompromisslos und ebenso klug und aufschlussreich (zumindest für mich, der ich mir der Problematiken zwar bewusst war, Dimensionen und Ausmaße aber bisher unterschätzt oder vernachlässigt habe).
Zusätzliche Brisanz erhält diese Kritik dadurch, dass die Fusion und ihre Besucher*innen gemeinhin als "links" gelten. Dass in der weißen, europäischen linken Community rassistische Trends und kulturelle Aneignungen nicht immer reflektiert werden, ist eine Tatsache, mit der sich diese Community auseinandersetzen sollte – hierfür liefert Hengameh Yaghoobifarah den Anstoß und zusätzlich noch jede Menge Material zum Nachdenken.
Natürlich wollen Menschen ihre Persönlichkeit entfalten und sich mit dem umgeben, was sie fasziniert. Aber wir sollten hinterfragen, woher unsere Faszination rührt und ob wir nur unsere persönlichen Vorlieben ausdrücken oder nocht etwas mittransportieren, etwas, das problematisch ist oder in einem nachvollziehbaren Rahmen als beleidigend aufgefasst werden könnte. Denn letztlich beuten wir mit vielen Trends möglicherweise Kulturen aus, legen Teile davon an und wieder ab – Wegwerfgesellschaft auf andere Weise, aber genauso problematisch.
So kann eine Miley Cyrus für eine Weile ihre Streetcredibility durch die Aneignung von Schwarzer Kultur, darunter Hiphop, Twerking und Dreadlocks, erhöhen, nur um eine Zeit später dieses Image wie ein altes T-Shirt abzulegen und sich dafür zu entscheiden, nun Country-Musik zu machen.
Ich kann nur allen empfehlen, sich einmal mit diesem Büchlein auseinanderzusetzen – ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen wie ich einige wichtige Anstöße erhalten werden. Ich weiß selbst noch nicht, wie ich konkret mit diesen neuen Erkenntnissen umgehen werde. Aber erstmal ist immer wichtig, dass Perspektiven, Ideen und Themen aufgeworfen und Menschen für sie sensibilisiert werden. In diesem Fall durch ein blutiges Herz auf der Fusion.
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