Das ungeklärte Bild von Wasser und Schlamm und Wasser
Obwohl bereits 2001 im argentinischen Original erschienen, ist Sergio Raimondis Zivilpoesie nie zu Ende. Im Gegenteil, sie scheint jedes Jahr an Aktualität zu gewinnen. Der Band, einer der wirkungsvollsten und wichtigsten einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte in einer nach wie vor Literaturnation Argentinien, ist im letzten Jahr in ursprünglicher Reihenfolge, sorgfältig neu herausgegeben von Peter Holland und mit Nachwort von Übersetzer Timo Berger bei Reinecke & Voß erschienen. Bravo.
Was Raimondi macht, ist ein erstaunliches Verfahren, dessen sich anscheinend auch fellow mate Martín Gambarotta bedient – zumindest in Pseudo aus der Brueterich Press – eine Art von slow-poetry oder slow-motion im Gedicht zu etablieren. Realistisch, in Echtzeit und darunter, beschreibend und oft irgendwie runterziehend, verlangsamend, bis sich das Winken auf die Leerstelle auszahlt. Wo Gambarotta verknappt und mit Inventar und Narration spielt, geht Raimondi absichtlich ins andere Extrem und beschreibt und beschreibt und beschreibt, fast lexikalisch, was da alles so ist, zwischen Bahía Blanca und den Köpfen. Teilweise sehr sperrig und jedes Mal mit erstaunlichen Wendungen oder Überraschungen im Realitätsfluss. Unvorhersehbar und singulär geht Raimondi als Aufzeichnungsmaschine auf die Jagd nach Kochrezepten, Fischfanglatein oder atavistischen Spuren der Antike, nur um – deutlicher geht es kaum – politisch zu werden. Sein Werkzeug, die Wasch- und Schlepppoesie, nimmt alles mit und implementiert es in interessanter Balance zwischen aufklärerischer Deduktion, trauernder Chronik und Andeutungen von Ausweg. Vor allem Timo Bergers Nachwort macht für den Nicht-Argentinienkenner deutlich, was hier eigentlich verhandelt wird, nämlich nichts weniger als die poetisch-kritische Aufbereitung des Niedergang eines Landes in kaum einem Jahrhundert, dessen Krisen bis heute (und ein Ende ist noch weniger in Sicht als 2001) durch Verehrung menschlicher Schwächen für u.a. Moneten und Macht auf Kosten von Natur, Ressourcen und Innenleben nichts weniger als horrös sind. Dabei ist Raimondi, der es schafft, den sogenannten Zeigefinger auf nichts anderes zu halten, als was eh vor Augen ist und damit die Bewertung dennoch im eigenen Kopf stattfinden lässt, trotzdem bisweilen äußerst lustig. Wohlgesetzt stinken manche Gedichte gegen den eigenen Fluss an und lösen sich in nicht geahnten komischen Bildern auf. Ein Spiel mit Erwartungen. Es wird in seinem Für ein kommentiertes Wörterbuch, das immer noch nicht in Gänze und erst recht nicht in Argentinien veröffentlicht ist, Auszüge bei Berenberg, fortgeschrieben und man darf gespannt sein, wie weit Raimondis poetische Verfahren und Werkzeuge auch über das bloße Veröffentlichen hinaus eine Anweisung zum Handeln hervorbringen. Dabei muss noch hinzugefügt werden: Raimondi lesen zu hören, sei hiermit aufs Härteste empfohlen. Der Rhythmus und die Verspieltheit der optisch eher statisch daherkommenden Gedichte ist völlig konträr und ebenso wenig erwartet wie die vielen lauernden inhaltlichen Wendungen. Hoffentlich gibt es bald mehr bei Reinecke & Voß, Raimondis Zivilpoesie erscheint unter dem Reihennamen edition ultramar, Lateinamerikanische Literatur eda. Also vamos!
Pietro Gori & Cicero & Percy Shelley,
Ingeniero WhiteAuf den Schienen der Waggon und auf seinem Dach
der Mond, bis er das Ende der Mole erreicht und ins Meer
kippt. Wer diese Rede hört, geht nicht nach Hause, geht
an einen anderen Ort, sieht nicht, wird – mancher für Tage,
manch anderer für Jahre – nicht mehr dasselbe sehen,
obwohl man es ihnen direkt unter die Nase reibt.
Der Redner mengt ein explosives Gemisch, aus
Rhetorik (55%), romantischer Inspiration (20%)
und kritischem anarchistischem Scharfsinn (25%).
Jetzt ist es unmöglich zu erraten, ob die Formel die richtige
war, der Verdacht bleibt, dass eines der Elemente ein
anderes langsam aufzehrt, in der Erinnerung an den
ersten Knall. Danach blindes Schweigen. Ich weiß nicht.
Auf den Schienen der Waggon und auf seinem Dach
nichts, etwas Getreidestaub und Spuren von Kohle.
Die Übersetzung von Berger, das Original ist durchgehend einsehbar, zeigt hohes Einfühlungsvermögen bei gleichzeitiger Offenlegung der Kunst Sergio Raimondis. Auch bei nur rudimentären Spanischkenntnissen ist zu sehen, wie hier mit Verkürzungen und Streckungen gearbeitet wird, die Sprache stilisiert und genutzt. Im Nachwort betont Berger zudem, wie sehr Raimondi auch an der Grammatik manipuliert, knapp an der Grenze zum Brechen gebogen. Ein tolles Werk aller Beteiligten.
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