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Kritik

Die Katzen / Los gatos aus dem Nachlass Julio Cortázars erstmals auf Deutsch

Hamburg

Der 1914 in Brüssel als Sohn eines Diplomaten geborene Julio Cortázar verlebte ab 1918 seine Kindheit und Jugend mit seiner Schwester und der Mutter in einem Vorort von Buenos Aires. Mitte der 1940er wurde er Professor für französische Literatur an der argentinischen Provinzuniversität in Mendoza, emigrierte aus Protest gegen das Regime Juan Peróns nach Frankreich, wo er bis zu seinem Tod 1984 in Paris lebte – soweit die nüchternen biografischen Fakten, in denen sich die frühkindlichen Erlebnisse im literarische Werk nur schemenhaft abbilden. Die hier vorliegende Erzählung, datiert mit Januar 1948, stammt aus dem Nachlass des renommierten Erzählers, der 2009 als „Papeles inesperados“ angekündigt wurde. Zu einem Zeitpunkt, als der Herausgeber des Gesamtwerkes, Saul Yurkievich, seine editorische Tätigkeit bereits abgeschlossen hatte.

„Cortázars ‚Katzen‘ sind keine Narration um Kindheit und aufkeimende Sexualität allein, sondern lassen Cortázars Obsessionen durchscheinen, die vor familiären Zuordnungen nicht haltmachen …“ (S. 126) Mit dieser Wertung der vorliegenden zweisprachigen Ausgabe von „Los gatos“ verbinden die Übersetzer/innen Terpe und Henseleit die Geschichte der Aufarbeitung des sensationellen Fundes. Die Erzählung sei „ein in gewisser Hinsicht unfertiger Text, der so voller Tücken ist, dass er sich bei genauer Hinsicht … wie eine Diaphanie liest, die es erlaubt, durch die Worte hindurch tiefer zu schauen.“ (S. 124) Dieses Unbegreifliche, die „Familienaufstellung um die Protagonisten Carlos Maria und Marta“ (S. 126) stelle den offenen Charakter des Textes, „das Selbstexperiment des Autors“, dar. Es handele sich dabei um die Fähigkeit als Autor in die Figuren seines literarischen Textes zu schlüpfen, ein Verfahren, das bedeutende Schriftsteller der Weltliteratur beherrschen, im Falle der vorliegenden relativ frühen Erzählung von Cortázar aber einen besonderen Akzent erhält. Darf der frühreife Carlos Maria aus der Familie Hilaire sich in die etwa gleichaltrige Marta verlieben, streng überwacht von Madame Hilaire, die annimmt, dass sie möglicherweise die Schwester von Carlos Maria ist? Und wie verhält sich der Erzähler gegenüber dieser von verwirrenden Vermutungen ausgeschmückten Geschichte? Schlüpft er wechselseitig in die Rolle von Marta und Carlos Maria, um seine Gefühle unverblümt zum Ausdruck zu bringen? Nein, er nimmt die distanzierte Position eines auktorialen Erzählers ein, ohne aus der erotisch aufgeladenen Perspektive einer der beiden Protagonisten etwas zu bewerten, was in das Halbdunkel überlieferter moralischer Vorurteile und Vermutungen fällt. Ist Maria etwa die Tochter einer jüngeren Schwester von Mama Hilaire, die den Nachnamen Ronsales trug und an Grippe starb? Mama Hilaire hatte sie angeblich in die Familie von Don Elías aufgenommen, der Marta diesen Nachnamen übertrug. Mit diesen „verbürgten“ Fakten, Vermutungen und Halbwahrheiten belastet, wachsen Marta und Carlos Maria auf. Sie werden immer wieder von  ihren pubertären Liebesempfindungen überwältigt, so lange bis Madame Hilaire die wahren Zusammenhänge von ihrem Ehemann Don Elías erfährt, das heißt Maria ist sein Kind aus einer früheren Liaison. Zu diesem Zeitpunkt hat Marta mit Rolando Ypes bereits einen Verehrer gefunden, der ihre Leidenschaft gegenüber „ihrem“ angeblichen Cousin Carlos Maria allmählich abkühlen lässt. Bitter enttäuscht von dem endgültigen Bruch seiner langjährigen pubertären Liebe zu Marta flieht Carlos Maria vor seinen Eltern, angeekelt von deren Heuchelei und Heimlichtuerei, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Und die Obsessionen des Autors, der den leidenschaftlichen Erzählstrom seiner Figuren rigoros überwacht und ihnen nur in ihren Dialogen die Möglichkeit einräumt, ihre Gefühle nahezu unkontrolliert von den Erwachsenen entfalten lässt? Dieser Text erweist sich für die Übersetzer/innen als besondere Herausforderung. Im Rahmen eines Mentoringprojekts, gefördert von der Kunststiftung NRW, präsentieren sie die spanisch-deutsche Edition mit einer Zeile aus der Lieddichtung „A ti, viva“ des spanischen Dichters und Nobelpreisträgers Vicente Aleixandre: „Cuando acerco mis labios a esa musica incierta.“ Sie übertragen diesen Vers wie folgt: „Wenn ich meine Lippen auf diese nicht geschmeckte Musik drücke.“ In dieser Version übermitteln sie dem Leser, dass „der nächste Vers … vom ewig jugendlichen Aufgewühltsein (berichtet), denn diese nicht gekostete Musik, ist die sinnliche Anbetung einer Geliebten aus der ersten Strophe dieses bekannten Gedichts.“ (S. 122f) Damit gehen in ihrer (leider nicht vorhandenen) Übertragung ins Deutsche zwei Aussagen verloren: die leidenschaftlichen Assoziationen, die diese Liebe durch die Musik übermittelt und die sinnliche Anbetung der Geliebten aus der ersten Strophe, die einem ungeduldigen Leser vorenthalten wird. Wie schade! Vielleicht wäre ein kürzeres Nachwort mit dem Akzent auf die betörend sinnliche Wirkung von Musik eindrucksvoller gewesen. Nichtsdestotrotz, die Lektüre dieser Erzählung ist unbedingt zu empfehlen: auf Spanisch und auf Deutsch, weil sie trotz ihrer angeblichen „Unfertigkeit“ den Leser fasziniert!

Julio Cortázar
Die Katzen / Los Gatos
Aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Henriette Terpe und Frank Henseleit. Zweisprachige Ausgabe.
Lilienfeld
2018 · 128 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-940357-70-0

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