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Kritik

Jakob Hessings Wanderung durch die Poesie

Hamburg

Am 9. Mai hielt der in Berlin aufgewachsene, aber seit langem in Israel lebende Germanist und Schriftsteller Jakob Hessing im Lyrik Kabinett seine «Münchner Rede zur Poesie», des Titels «Auf der Grenze». Hessing betont mehrfach, dass er selbst kein Dichter sei, und er enthält sich deshalb auch weitgehend einer expliziten Poetik. Trotzdem schickt er seinen Überlegungen eine grob umrissene Poetologie voraus: «Alle Dichtung», sagt er, «ist zunächst ein Selbstgespräch.» Dies gilt sowohl für das Schreiben als auch das Lesen eines Gedichts, denn hat der Dichter erst die Bilder aus seinem Inneren hervorgeholt, von denen seine Texte leben, senken sich dieselben Bilder ins Innere des Lesers, «und sie lösen auch bei ihm ein Selbstgespräch aus». Im Sinne dieser Poetologie lässt sich Hessing in seiner Rede von den Dichtern leiten, besonders von Chaim Nachman Bialik und Else Lasker-Schüler, aber auch von Schiller und Lessing, deren Gedichten er eine Bedeutung für seine eigene Biographie abgewinnt, die sich allerdings nicht subjektivistisch verengt, da es in dieser «autobiographischen Wanderung», so der Untertitel, immer auch um die allgemeine Geschichte des letzten Jahrhunderts geht.

Gegen Ende der Rede bietet uns Hessing, der 1944 als jüdisches Kind in Polen geboren den Nazis entkam, eine wagemutige Umdeutung von Lessings Ringparabel an: Der Vater habe seinen Ring nicht in «frommer Schwachheit», wie Lessing sagt, allen drei Söhnen unter die Nase gehalten und zuletzt zwei Stück nachschmieden lassen, um allen gerecht zu werden. Vielmehr sei er unnachgiebig gewesen wie seine Vorgänger, sodass ihn seine Söhne ermordet hätten, um den einen Ring zu verdreifachen und die Macht unter sich aufzuteilen. An die Stelle der versöhnlichen Handlung tritt die Gewalttat, denn bei Hessing, dem Germanisten an der Hebräischen Universität von Jerusalem, ist «der Optimismus der Aufklärung (...) einem anderen Gefühl gewichen (...), infiziert von einem Schrecken, der uns seit Auschwitz nicht mehr loslässt» und zudem, wie er ebenfalls andeutet, einer Hoffnungslosigkeit der gegenwärtigen Situation im Nahen Osten gegenüber, die so gar nicht Lessings Gedanken entspricht.

Welche Aufgabe bleibt der Poesie? Hier befindet sich Hessing auf der grünen Grenze zwischen religiöser und säkularer Literatur. Er veranschaulicht den Übergang anhand von Schillers «Bürgschaft», angesichts eines christlichen Symbols also, wird doch in der Ballade, wie Hessing betont, die Kreuzabnahme von der religiösen Befreiung der Welt durch einen toten Gekreuzigten zur weltlichen Befreiung des lebenden Menschen vom Marterwerkzeug. Das Hauptaugenmerk gilt aber dem hebräischen Dichter Chaim Nachman Bialik (1873-1934), dessen Text «Entdecken und Verhüllen» Hessing für den zeitweilig von ihm selbst herausgegebenen «Jüdischen Almanach» übersetzt hat. Bei Bialik ist die poetische Sprache kein Mittel zur Enthüllung profunder Binsen, sondern zielt auf die Verhüllung des Chaos, sprich, der gähnenden Leere, die uns aus metaphysischer Notwendigkeit umgibt. Obwohl Bialiks Dichtung vom religiösen Sprachgebrauch gesättigt ist, sieht er ihre Aufgabe also nicht im quasi-religiösen Eifer der Offenbarung, sondern darin, das unausweichliche Grauen zu verbergen. Hessing selbst beantwortet die Frage danach, was die Poesie leisten könne, nicht ausdrücklich, aber seine Sympathien für Bialiks Konzeption sind eindeutig.

Ein weiteres wichtiges Thema der Rede habe ich hier nicht angeschnitten, nämlich das Verhältnis zwischen deutscher und jüdischer Geschichte und Kultur, welches Hessing insbesondere in Bezug auf Lasker-Schülers Gedicht «Mein Volk» behandelt; aber davon mag sich der Leser ein eigenes Bild schaffen. Mir bleibt, allen dieses schlichte, aber einprägsame Selbstgespräch ans Herz zu legen.

Jakob Hessing · Frieder von Amon (Hg.) · Holger Pils (Hg.)
Auf der Grenze. Eine autobiographische Wanderung. Münchner Reden zur Poesie
Stiftung Lyrik Kabinett München
2018 · 34 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3-938776-49-0

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