Istanbuls dunkle Flecken
Istanbul ist eine geschichtsvergessene Stadt. Ausgerechnet hier, wo Geschichte allgegenwärtig ist, verfallen historische Stätten oder werden einfach planiert, wenn sie einer neuen Mall im Weg stehen. Das liegt auch daran, dass es dunkle Flecken in der Stadtgeschichte gibt. Heute leben nur noch wenige Tausend armenische und griechische Christen am Bosporus. Vor gerade mal 150 Jahren stellten sie zeitweise die Bevölkerungsmehrheit, lebten in Beyoglu und Üsküdar. Ganze Stadtviertel hatten griechische Namen, im Osmanischen Reich lebten die Ethnien und Konfessionen weitgehend friedlich mit- und nebeneinander. Im 20. Jahrhundert kamen Genozid, Pogrome, Vertreibungen – und bis heute spielen diese Schrecken in der türkischen Schulbildung keine Rolle, viele werden offiziell verleugnet.
„Wenn es gelänge, Nationalstaaten ohne Minderheiten zu bilden, würde man einer künftigen Kriegsgefahr aus dem Weg gehen, dachte man.“ So beschreibt Michael Asderis einen zentralen Aspekt des türkisch-griechischen Konflikts in den Zwanzigern. Sein unlängst bei Binooki erschienenes Buch „Das Tor zur Glückseligkeit. Migration, Heimat, Vertreibung – die Geschichte einer Istanbuler Familie“ arbeitet diese dunklen Flecken, diese verleugneten Gräueltaten minutiös auf. Asderis wurde 1950 in Istanbul geboren. Vierzehn Jahre später wurde sein Vater, wie rund zwölftausend weitere Menschen mit griechischem Pass, aus der Türkei ausgewiesen. Fast mittellos kam die Familie nach Deutschland, wo Asderis bis heute lebt. Seine Vorfahren mit griechisch-italienisch-armenischen Wurzeln hatten seit 1848 am Bosporus gelebt. Die Türkei empfanden sie als ihre Heimat. Bis sie über Jahrzehnte und Generationen hinweg zum Spielball politischer Interessen, nationalistischer Ideologie und zum Ziel von Hass und Ausgrenzung wurden.
Dabei ist das gut recherchierte und so faszinierend wie erschreckende Werk keineswegs nur als historisches Dokument von Interesse, sondern auch zugleich hochaktuell. Denn vor dem Hintergrund der erstarkenden rechtsradikalen Parteien und nationalistischen Tendenzen in Europa zeichnet es die Dynamiken nach, die derartige Konflikte entwickeln können. Was wir zurzeit erleben ist ja alles schon dagewesen – umso wichtiger ist es, jenen zu lauschen, die es erlebt haben.
„Das Tor zur Glückseligkeit“ ist eine der vielen Bezeichnungen, die Istanbul im Laufe der Jahrhunderte von seinen Bewohnern erhalten hat. Die meisten dieser Bezeichnungen drücken Zuneigung und Hoffnung aus. So war das damalige Konstantinopel, das 1848 noch nichtmal eine Million Einwohner hatte, auch ein Hafen der Hoffnung für Asderis' Vorfahren, für Menschen aus aller Welt, die nicht selten als Flüchtlinge in die Stadt kamen und sie zu einem multikulturellen Melting Pot machten, in dem einerseits jeder seine Sprache und Traditionen pflegen und sich trotzdem als Osmane fühlen konnte. Es scheint in Asderis Erzählung, als sei eine Einigkeit aus der Vielfalt und Verschiedenheit entstanden – trotz der zu einem gewissen Grad existierenden Abgrenzung in weitgehend ethnisch-religiös homogene Stadtbezirke. Dass Nichtmuslime mehr Steuern zu entrichten hatten als Muslime war lange Zeit der einzige nennenswerte Nachteil, den die zahlreichen Minderheiten im Alltag zu spüren bekamen. Obwohl es noch klein war, war Istanbul schon damals eine Weltstadt im besten Sinne, und es hat die politischen Verwerfungen immer wieder erstaunlich gut überstanden. Bis heute – wo es erneut einem machtbesoffenen Despoten zum Opfer fällt.
Asderis hat für sein Buch – sein erstes, was man ihm strukturell und stilistisch zu keinem Zeitpunkt anmerkt! - Gespräche geführt, Archive gewälzt und eine erstaunliche Detailtiefe zutage getragen, die die Atmosphäre der jeweiligen Zeit immer gut nachfühlen lässt. Er erzählt mit historischer Akribie die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen von 1848 bis 1964 nach, macht komplexe Zusammenhänge greifbar und verquickt sie mit den Aufzeichnungen und Erlebnissen der eigenen Familie, die aufzeigen, wie politisches Handeln konkret ins Leben des Einzelnen hineinwirkt, wie es mal zu entspannten Jahren, mal zu Terror und blanker Angst bis hin zu Willkür und Vertreibung führt. Und es ist ein Buch, das, ohne es direkt auszusprechen, auf ein gesellschaftliches Kernproblem verweist, mit dem wir bis heute zu kämpfen haben: Den Kulturkämpfen, die, wie schon bei Huntington, mehr herbeigeredet als real sind, eine selbsterfüllende Prophezeiung.
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