Sonnenuntergänge und Begegnungen und Lehrreiches und Antworten
Die Apokalypse im Kleinen hat Annika Scheffel bereits in ihrem Vorgängerwerk „Bevor alles verschwindet“ geprobt: Ein idyllisches Bergdorf sollte dort geflutet werden. Nun, in ihrem neuen Roman „Hier ist es schön“, muss – Klimakatastrophe sei Dank – die ganze Welt dran glauben: Der Meeresspiegel steigt an; die Sonne zeigt sich kaum noch. Die Bäume sind kahl; immer mehr Ernten bleiben aus.
Man darf davon ausgehen, dass die Geschichte in Deutschland spielt, auch wenn keine konkreten Orte benannt werden. Gibt es noch eine Regierung? Wie sieht es in anderen Teilen der Welt aus? Gibt es Kriege? Flüchtlingsströme? Diese Fragen lässt die Autorin unbeantwortet; stattdessen konzentriert sie sich ganz auf einen überschaubaren Kreis von Protagonisten – beinahe so, als sei auch hier nur ein kleines, isoliertes Dorf vom Weltuntergang betroffen: Omas Äpfel verfaulen am Baum, Papa backt einen Marmorkuchen aus Kartoffelmehl, der Freund verkauft sein Auto, da es ohnehin kein Benzin mehr gibt. Der Fokus auf die direkt erfahrbaren Auswirkungen des Klimawandels lässt einen mit den Figuren mitfühlen; ein bisschen mehr Blick über den Tellerrand hätte dennoch nicht geschadet.
Zumal das Buch, auf seine Art, sogar weit über die Erde hinausweist: Im Zentrum des Plots steht eine gigantisch aufgezogene Reality-Show, in der vor laufenden Kameras aus einer Gruppe Bewerber_innen mittels ethisch fragwürdiger Mutproben und „Kompatibilitätstests“ eine Frau und ein Mann auserwählt werden, die nach zehnjähriger Vorbereitungszeit ins All reisen sollen, um dort einen neuen Planeten zu besiedeln. Um welchen Planeten es sich handelt oder mit welchen Technologien das Space-Projekt vonstattengehen soll, bleibt außen vor – vielmehr scheint es sich bei dem Spektakel von Anfang an um eine elegant ausstaffierte Illusion zu handeln, die vor allem dazu dient, der Bevölkerung einen Ausweg aus der Katastrophe zu suggerieren.
Das unwahrscheinliche Traumpaar geben Irma, die einer ziemlich durchschnittlichen Familie entstammt, und Sam, über dessen Herkunft nichts bekannt ist außer: „Er wurde angespült an einem der letzten Sommertage.“ Scheffels Vorliebe für fragile, versponnene Jungmänner-Figuren findet in Sam nicht nur einen vorläufigen Höhepunkt, seine Weltfremdheit hat hier sogar einen halbwegs plausiblen Grund: Er wurde offenbar unter der Erde von einem Hund und anonymen „Masken“ aufgezogen; die Regeln menschlichen Zusammenlebens kennt er vor allem aus Disney-Filmen. Als der Kaspar-Hauser-Slash-Wolfsjunge schließlich unerlaubterweise ins feindliche Außen spaziert, sorgt seine Mischung aus entwaffnender Naivität und verstörender Ehrlichkeit für einige der unterhaltsamsten Szenen des Buches.
Auch Irma ist ein interessanter, wenn auch weniger schräger Charakter. Als sie sich mit 16 für die Show bewirbt, besteht ihre Motivation vor allem darin, sich keine Zukunft mehr ausmalen zu müssen in dieser untergehenden Welt, sondern stattdessen ein hehres Ziel vor Augen zu haben: Die Rettung der Menschheit. Ist ihre bedingungslose Hingabe an dieses Hoffnungsszenario mutig oder ausnehmend feige? Ist sie völlig verblendet oder eine der wenigen, die noch Visionen haben? Diese Fragen muss sich die junge Frau im Lauf der Geschichte immer wieder stellen (lassen).
Sam indes verfolgt einen Mythos, den die meisten längst aufgegeben haben: Die Insel. Lange erzählte man sich, „dass dort alles ist, wie es sein soll (was immer das bedeuten mag)“. Irma will ihn eigentlich nur zurückzuholen in die „Arena“, doch seltsamerweise finden sie den Eingang nicht mehr, und so geraten die beiden unfreiwillig auf eine abenteuerlich-märchenhafte (Anti-)Heldenreise. Was sie finden? „Sonnenuntergänge und Begegnungen und Lehrreiches und Antworten“, natürlich. Scheffels Erzählstil ist demonstrativ, ja bisweilen so didaktisch, wie man ihn von einem Jugend- oder All-Age-Roman erwarten würde. Das clasht, vor allem gegen Ende, ziemlich mit den vielen losen Erzählfäden, die Scheffel anreißt und recht unvermittelt wieder fallen lässt.
Ein Kunstgriff? „Hier ist es schön“ setzt sich, genau wie Sams Gedächtnis, zusammen aus Versatzstücken bekannter Fiktionen. Stammt „letzte Sommertage“ nicht aus einem Lied? Ist Sams Erinnerung an den Hund real, oder hat er einmal zu oft „Das Dschungelbuch“ geguckt? Die Arena/Fernsehshow bewegt sich irgendwo zwischen Big Brother, Dschungelcamp und den Hungerspielen; auch die „Masken“ mit ihren Vogelschnäbeln, Kapuzen und dunklen Umhängen meint man aus diversen Filmen zu kennen. „Wenn die Welt zu Ende geht, merkt man das immer an den Tankstellen“, stellt Tom – Irmas Verehrer, der die beiden auf ihrem Weg zur Insel begleitet – an einer Stelle fest. „Ich hab das Gefühl, ich hab das schon tausendmal gesehen.“ Die ersten hundert Seiten über kitzelt dieses permanente Déjà-vu-Gefühl, dann beginnt es langsam zu ermüden.
Abgründig wird der Roman, als Irma und Sam das Meer erreichen, vielmehr zunächst ein allzu pittoreskes Hafenstädtchen, mit einem Kopfsteinpflaster, von dem Irma annimmt, es sei „wahrscheinlich aus Plastik oder Hartgummi, optimal jedenfalls, wenn der Ton erst später unterlegt werden soll“. Die Welt als Verlängerung der „Arena“, das Leben als Spiel – da fragt man sich, ob nicht auch die (vermeintlich geheimen) Sehnsüchte, die Ausbruchsfantasien der Figuren von vorn herein mit eingeplant, zumindest aber in den Ablauf einkalkuliert waren. Reminiszenzen an „Die Truman Show“ klingen an, als die beiden Auserwählten am Ufer stehen. Ob sie mit ihrem kleinen Motorboot an den Rand einer unsichtbaren Kuppel stoßen werden?
Viele Fragen lässt Scheffel offen. Vielleicht – und das würde den Eindruck einer All-Age-Fantasy-Serie noch verstärken – ist ja eine Fortsetzung in Arbeit.
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