Postapokalyptisch
Wer frische Luft atmen will, braucht Jean Krier neues Buch Herzens Lust Spiele. So etwas hat man hierzulande noch nicht gelesen. Besser gesagt: so etwas liest man hierzulande nicht. Kein Wunder – der deutschsprachige Dichter lebt in Luxemburg. Dabei sind seine Texte gar nicht so froh und sorglos und dennoch strahlen sie bei aller Ernsthaftigkeit rundweg eine unbeschwerte, lebensbejahende Fröhlichkeit aus. Diese Fröhlichkeit ist fragil und aus vielen authentisch anmutenden Krisen gewachsen.
„Jean Krier erfindet die Sprache der Lyrik neu – aus verbalem Strandgut, aus Sprachmüll, aber auch aus klassischen Reminiszenzen, Anspielungen, Alltagspoesie. Seine streckenweise virtuos arrangierten Gedichte sind Sprachkritik und Fest der Sprache zugleich“, schreibt die Frankfurter Rundschau.
Sprachlich gesehen werden kunstfertig Wortfindlinge, Textsplitter, Zitatsprengsel, Satzstummel aus allen möglichen Kontexten zu einer völlig neuartigen Textur verwoben; Jean Kriers Sprache wirkt jedoch nicht nur recycelt: alles, was er findet, wird auf äußerst reizvolle Art verwertet und eingearbeitet in einen erfrischenden Sprach-Kosmos, bei dessen unerwarteten Schwenks einem die Spucke wegbleibt. Krier baut aus dem vorgefundenen Wortmaterial immer Sinnreiches und Unerhörtes. Der Autor geniert sich nicht, alles herzunehmen, was (un)heilig ist; da wird sogar hin und wieder der Tonfall des Alten und Neuen Testamentes sprachgesampelt. Alltägliches neben Tabuisiertem, Globales wie Privates wird zusammen mit politisch Hochbrisantem und historisch Heiklem – ohne (wie es heute üblich ist), soundso viele Filter durchlaufen zu haben und politisch bis zur Aussagelosigkeit korrektifiziert worden zu sein – lakonisch bei den Hörnern gepackt und nonchalant zu Papier gebracht.
Ich lebe doch – sonst wäre nicht Welt, u muss
noch hinaus zu den Toten, sie zu wecken u wenden,
die im Viehwaggon da, dass sie mal andersrum
u ab in die Fabrik oder gleich in den Ofen u
leichtbeschwingt durch den Schornstein, sonst wär
die andere Welt (…)
schreibt Krier gleich im allerersten Gedicht seines Bandes mit dem Titel Une incroyable façon de nous faire mourir (Eine unglaubliche Art, uns sterben zu lassen), bezogen auf ein Zitat von Michel Déguy. Etliche französische und lateinische Einsprengsel erscheinen zunächst als etwas irritierend, aber bremsen den Lesefluss nicht wirklich ab: sie sind ein Kann, niemals ein Muss. Obiger Text endet mit der lakonischen Verszeile: Wie gut u leicht haben ohne Welt die Toten doch reden. Genau das fasziniert immer wieder an diesem Buch: Mit welcher Leichtigkeit derlei tiefsinnig Absurdes einfach hingeschrieben wird, was doch inhaltlich ein kleiner Eklat ist.
Das Aufschichten und Montieren von Sprachmaterial geht über ein bloßes Sampling weit hinaus, da infolge der Textmontage auch immer wieder der syntaktische und semantische Fluss gebrochen wird, was z. B. die amerikanische Gegenwartslyrik selten und der gegenwärtige deutsche Mainstream kaum noch schaffen. Hierin ist Jean Krier aufregend kühn, ungeheuer konsequent, mitunter eiskalt und radikal. Er weicht der Ästhetik des Ekligen eben gerade nicht aus, sondern zeigt hochbrisante Inhalte. Leichten Fußes am Waldrand u Zärtlichkeit, ach wie / junges Grün, während im Haus, wo / ein Mann, Schlag u Geschrei. Im Flur / Erbrochenes u Blut, an den Wänden / obszönes Geschmier. So tobt es mit mir / durch mein Hirn.
Kriers Dichtung ist außergewöhnlich, originell und eigenwillig und nimmt zu keinem Zeitpunkt irgendein Blatt vor den Mund. Sie konstatiert sehr deutlich, dass letztlich nichts konstatierbar ist. So von alten Wirklichkeiten zum Besten das Hirn. Die Gedichte reflektieren in sich manchmal selbstreferenziell ihren Entstehungsprozess: So sollte dies, ganz / auf die sanfte, ein Gedicht werden, von schwarzen / Flügeln immer wieder geschlagen, wie das eben bei / Strandspaziergängen der Fall ist, oder obschon die Route so genau geplant / war wie dieses Gedicht, in dem alle Synapsen gekappt werden sollten. Manche Gedichte wirken, als hätte ihr Schöpfer sie kurz nach Fertigstellung absichtlich zerstört; ähnlich einem meditativen Mosaik, an dem tagelang gearbeitet wurde, bevor man die Steine wieder zusammenkehrt. Diese absichtsvoll „zerstörte“ Ganzheit hat ihren ganz eigenen Charme und wirkt keineswegs manieriert. Kaum zu ertragen zwischen / Vögeln u Flut die Spannung dieser Musik. Diese gottverdammte Geige. /Un talent absolument fou im Sitzen, Warten, Furzen. Bist du aber bereit /zu dieser Opposition? Stellenweise bekommen die Texte etwas Irres und fast Hysterisches, sind zwischendurch provokativ und bewusst blasphemisch und scheren sich gar nicht um allzu zart besaitete Leser, wenn sie in „uralte Schmerzensspalten“ langen; Ganz langsam wachsen nun Wunde / und Welt mir wieder zu. Die Texte sind stets so feinsinnig und vielfältig, dass sie immer noch einige Nebenbedeutungen in der Hinterhand haben, die man selbst bei mehrfacher Lektüre noch längst nicht alle entdeckt hat.
Es werden absichtsvoll und explizit Tonfälle bekannter Dichter nachgeahmt; es gibt Bezüge zu Dante, Lautréamont, Rilke, Ashbery, Proust, Beckett u. v. m., deren Sprachwelten kurz anzitiert werden. Bezaubernde, elegante Weine, die man öffnet, damit sie ihr Bukett verströmen.
Motive gibt es einige, immer wieder ist von den (Aug-) Äpfeln die Rede, vom Sündenfall; daneben werden das Abendmahl und biblische Themen als solche thematisiert: Das Fleisch und immer wieder das Blut, das Sterben, „Kuchen, Kirchen u Krieg“. Die Stille. Die Toten. Das Meer verkörpert den Fluss der Dinge, die Katzen stehen für das Ewig-Erotische. Danke für die geile Zeit u wie sie / liegen, die Katzen, schnurrend in Gedichteschatten.
Die Texte in Herzens Lust Spiele gehen mit all ihrer collageartigen Versatzstückhaftigkeit weit darüber hinaus, aus vorhandenem Material lediglich einen bunten Mix fabriziert zu haben. Ihre Sprache kündet von Destruktion, von Verstümmelung, vom Kaputtgehen dessen, was uns alltäglich umgibt. Die Texte zeigen schonungslos auf, was geht und vergeht. Redewendungen aus dem alltäglichen Gebrauch werden umgekehrt und verfremdet.
Denn du brauchst etwas, zum dich Aufhängen dran,
einen Einkaufszettel vom letzten Jahr in der Tasche
oder eine beglichene, verblichene Rechnung aus
der Bar, meinetwegen auch einen schäbigen Vers,
der hält, was er nicht verspricht (…)
Kriers Gedichte sind von der Farbe hier tiefschwarz, kantig, metallen, mitunter „meerschwarz“ und haben eine dementsprechend konzise Aussage. Es sind Töne zu hören, die man so noch nicht gehört hat. Die Texte sind selten larmoyant und nie melancholisch; immer kontert stattdessen eine heitere, gewitzte Selbstironie. Die Texte sprechen ihre Inhalte aus, sagen direkt, was sie meinen. Und behalten dabei immer noch ein Geheimnis für sich.
Wie ein Chirurg führt der Autor seine nötigen Schnitte durch, die weh tun und im Nachhinein noch lange schmerzhaft sind; so sehr Krier analytisch und messerscharf seziert, versteht er auch mit (absurdem) Humor umzugehen, dass es der reinste Balsam ist. Man ist als Leser angetan und berührt. Man ist schockiert und amüsiert gleichermaßen. Hier wird nicht eben bloß Wortmaterial in oberflächlicher Beliebigkeit gemixt und an lyrischen Turntables herumgeschraubt. Hier wird solide und mehrschichtig orchestriert. Hier wird überraschend virtuos gedichtet. Hier werden Konflikte benannt, hier werden sogar Utopien verschnitten und ad absurdum geführt.
Zur Hölle mit der Freiheit
Schreien sie, sobald in der Sprache kocht das Meer
u müdes Abwinken, die Träume suchen das Weite,
wo Dunkles aufgehoben gut u Ausscheidungen nicht
der frühen Jahre überzeugen, obwohl auf der Straße
Boris hüpft u singt u klacken die Absätze der Frauen.
Du spürst, wie der alte Stein an der Schläfe pulst.
Postutopisch lebt sich’s besser. Die lyrische Stimme bei Krier ist sarkastisch und gleichzeitig anrührend ehrlich. Utopien sind passé. Die Stimmungslagen wechseln schnell, obschon du doch frei bist, / neue Konstellationen zu schaffen u hinter jeder Tür / unter Anrufung des HErrn dein Süppchen zu kochen. So finden sich auch Anklänge und Zitate aus der Apokalypse – dem Ende des Neuen Testamentes. Doch auch die Apokalypse haben die Texte schon hinter sich und so möchte man eigens das Wort postapokalyptisch erfinden – da sie von Endzeitgedichten (mit ihrem entsprechenden Endzeitgedichtesound) weit entfernt sind. Lass schnauben, lass Totentanzbeine dann schwingen / – das ist das Ende vom Lied vom Ende der Zeit.
„Seh dir, Engel, für immer nach. Bring vor dem Eingriff, / dem letzten, bitte, die Flaschen noch zum Container“, lesen wir am Ende eines Gedichts mit dem witzigen Titel In der Dezembergegend. Hier schreibt ein 60-jähriger Dichter, mit einem lakonisch-bitteren und ebenso heillos-gut gelaunten Blick auf das Leben. Die lyrische Stimme hat so vieles schon hinter sich, dass es eine Freude ist. Es ist überhaupt erstaunlich, was diese Gedichte alles schon hinter sich haben! Allzu jugendliche Hoffnungen, die meisten Lebens-, Beziehungs- und Sinnkrisen, den (altersbedingten?) Frust im Bett, den 60. Geburtstag, den Glauben an die Politik, an das eigene Glück, das Trauern um die eigene Vergänglichkeit, den Glauben an Gott, an die katholische Kirche und die verbesserbare Welt. Nein! Die Dinge liegen, wie sie liegen, die Welt ist wie sie ist. Jean Kriers Dichtung ist hierin postpathetisch, postsemantisch, postsyntaktisch … und so könnte man noch eine ganze Reihe höchst erfrischender Post-Komposita erfinden. Fazit: So etwas liest man hierzulande (noch) nicht. Weil hierzulande keiner so etwas schreibt. Es wird Zeit, / den Fisch in die Sonne zu werfen. On s’amuse bien ici.
Jean Krier ist 1949 in Luxemburg geboren, wo er heute lebt. Er studierte Germanistik und Anglistik in Freiburg im Breisgau. Seine Texte erschienen zahlreich in Literaturzeitschriften (u. a. Akzente, manuskripte, Sprache im technischen Zeitalter) und sind im Rundfunk zu hören.
Fixpoetry 2010
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben