Der verwunderte Mauerzeitungsleser
giwi margwelaschwili, 1927 als sohn georgischer emigranten in berlin geboren, hat einen hochintellektuellen und zugleich äußerst amüsant zu lesenden essay über mauertexte, aufschriften auf mauern im heutigen berlin geschrieben – und er begibt sich so auf seinen tatsächlichen und geistigen wanderungen durch berlin auf einen abenteuerlichen weg der erkundung, des entdeckens einer stadt mit ab- und tiefgründen, mit einsichten, die sich dem oberflächlichen flaneur kaum erschließen. margwelaschwili schafft so eine spezifische poetik der stadt, die er eng an seine philosophie der textbasierung jeder menschlichen existenz bindet.
giwi margwelaschwili wurde 1927 als sohn georgischer emigranten in berlin geboren. im jahr 1946 wurde er zusammen mit seinem vater vom sowjetischen geheimdienst nkwd entführt, sein vater wurde ermordet und er selbst in sachsenhausen interniert und anschließend nach georgien verschleppt. dort lehrte er nach dem germanistikstudium jahrzehnte lang deutsch am fremdspracheninstitut. im jahr 1971 wurde er in das philosophische institut der georgischen akademie der wissenschaften berufen. erst 1987 konnte er nach deutschland zurückkehren. während der zeit in georgien entstand ein umfassendes philosophisch-literarisches werk – betrachtungen, romane, erzählungen. im jahr 1994 erhielt giwi margwelaschwili die deutsche staatsbürgerschaft und ein ehrenstipendium des bundespräsidenten, 1995 den brandenburgischen literatur-ehrenpreis für sein gesamtwerk, 2006 die goethe-medaille, 2008 das bundesverdienstkreiz. er ist mitglied des internationalen p.e.n. und lebt in berlin. seit 2007 wird sein gesamtwerk im berliner verbrecher-verlag herausgegeben.
ein philosoph, und großer erzähler, wandert durch die stadt, durch berlin, und „entdeckt“ – mauerinschriften, texte, auf mauern geschrieben. er ermittelt die befindlichkeit der stadt. er spürt den intentionen der „mauerbedichter“ nach, ergründet sinn hinter texten, die von zumeist uns unbekannten geschrieben, „hinterlassen“ wurden, sinn, den die texte für uns haben können, oft nach jahren, jahrzehnten noch.
und er, der philosoph und schriftsteller, schreibt einen wunderbaren, die poetologie des mauerbedichtens begründenden essay, im buch begleitet von fotos von mauertexten des fotografen alexander janetzko.
erst einmal geht der autor von der annahme aus, dass der mensch im prinzip nur als „textweltmensch“ – ein typisches margwelaschwili-wort – existiert; dass also die mauertexte nicht nur „umwelt“-ereignisse darstellen, die ihm auf seinen gängen durch die stadt begegnen, sondern dass diese direkt auf ihn selbst zurückweisen – als lese er die stadt wie ein buch. und er beginnt gleich mit einer poetologischen einordnung der mauertexte: z.b. als texte, die „erzeugnis zweier autoren“ sind, die „in ihrem modalen sinn absolut zusammenfallen“, wie der mauer-text „berlin muss deutsch bleiben“: der kontrapunktische mauertext – zwei autoren arbeite(te)n am gleichen text, wenn auch vielleicht zu verschiedenen zeiten, und aus dem text wird: „berlin muss (deutsch ist durchgestrichen, dafür -) rot bleiben“.
ja, zuerst einmal öffnet margwelaschwili uns, den lesern seines essays, die augen: mauertexte als charakteristika der jeweiligen stadt wahrzunehmen; und fortan werden wir auch versuchen, solchen mauertexten nachzusinnen, ihren sinn zu erfassen, sie in beziehung zu uns selbst und damit uns selbst in beziehung zur stadt zu setzen.
margwelaschwili geht in seinem essay weiter, er spürt dem sinn von mauertexten nach und versucht, ihre konsequenz zu denken, für uns, wenn schließlich tatsächlich einträfe, was dort gewünscht, intendiert steht. der rückgriff auf die bbc-rubrik „der verwunderte zeitungsleser“ während des zweiten weltkriegs – die analyse der presse des ns-regimes, deren kritik und widerlegung; der autor konstruiert den „verwunderten mauerzeitungsleser“, der, mit esprit, die mauertexte analysiert, kritisiert, bestätigt oder widerlegt, sie einordnet in frühere zeit, ins heute.
giwi margwelaschwili, kenner berlins aus kindertagen in den dreißiger jahren und heute, gelingt so eine neue form der poetik einer stadt – insofern also eine poetik des raumes dieser stadt; er integriert deren geschichte in seine überlegungen (die jahrzehntelange teilung des landes zum beispiel und ihren einfluss auf die mauertexte); als methode empfiehlt er dieses spezifische „verwundert-sein“, das betrachten als verschmitzter, nachdenklicher, auch empörter beobachter, der seine gefühle und kenntnisse durcheinander wirbeln lässt, bis sinn entsteht.
sehr interessant das nachdenken über die identität des mauertext-verfassers – der in aller regel aus der anonymität heraus agiert, und diese auch bewahrt; für margwelaschwili ist dies ein wichtiges „ontotextologisches moment“, dieser schritt, vom inoffiziellen zum, in der passenden zeit, offiziellen zu werden – ein text, der „für das leben oder sein seiner texte bestimmt ist“. der autor geht schließlich sogar so weit, von der verwandtschaft zwischen mensch und mauer zu sprechen, die in abhängigkeit von einander existieren, „denn die mauern spazieren seit langer zeit, vielleicht schon seit der sintflut, mit ihren eigenen gesichtern unter den menschen herum.“
didaktische mauerinschriften, die spiegelung der vielsprachigen weltstadt in den mauerinschriften, ornamental garnierte mauertexte, mauertexte als antidokumente heutiger und dokumente vergangener zeit. der autor schafft kategorisierungen, er ordnet die mauertexte spielerisch ein und schafft so das spiegelbild einer weltstadt aus ihren ureigensten texten, denen ihrer anonym bleibenden bewohner, heraus. wie besser könnte eine stadt charakterisiert werden? ein unzweifelhaft gewinnbringender ansatz, eine stadt von grund auf kennen zu lernen.
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