Hüpfende Steine
Ich stelle mir Jehuda Amichai so vor: Ein gespannter Spaziergänger, kein lockerer Flaneur, der durch glattgetretene Gassen geht, sich hin und wieder bückt, einen Eindruck aufhebt wie einen kleinen Stein, um ihn über den Tümpel der Poesie hüpfen zu lassen, zwei, drei oder auch sieben Mal, mit jedem Sprung ein neues Bild schlagend, bis er endlich glucksend abtaucht. So schrieb er farbenfroh über die ältesten Dinge, Liebe und Erinnerung, Vergessen und Tod, Heimat und Krieg und fast durchwegs über Jerusalem, wo er lange lebte und im Jahr 2000 auch starb. Und so wurde er, 1924 in Würzburg geboren, 1935 mit seiner Familie nach Palästina ausgewandert, zum vielleicht bekanntesten modernen hebräischen Lyriker. Hans D. Amadé Esperer legt uns nun in deutscher Übersetzung einen thematisch geordneten Querschnitt durch Amichais Lyrik vor.
Im Ansatz sind Amichais Gedichte oft gewollt schlicht und direkt, lesen sich zumindest in der Übersetzung wie gekonnt arrangierte Tagebuchaufzeichnung. Die Liebesgedichte zum Beispiel sind gerne derb:
Ein Hund nach der Liebe
Nachdem du mich verlassen hast
ließ ich einen Spürhund meine Brust
und meinen Bauch beschnüffeln. Ließ ihn die Nüstern füllen
und schickte ihn auf deine Spur.Ich hoffe, er findet dich und reißt
deinem Lover die Eier auf und beißt
seinen Schwanz ab –
oder bringt mir wenigstens
deine Nylons zwischen den Zähnen.
Es ist der unverblümte Ton, der gewinnend und erfrischend wirkt. Die Persona, die in Amichais Gedichten auftritt, ist kein Avantgardekoch, der jedes Amuse-Bouche auf Fehlerlosigkeit trimmt, sondern einer, der bereit ist, in allen Lebenslagen drauflos zu dichten, ausgefranste Stellen hin oder her. Das soll nicht heißen, dass die Gedichte kunstlos wären, im Gegenteil, gerade ihr Impromptu-Charakter ist kunstvoll, auch kunstvoll konstruiert.
Insbesondere beherrscht Amichai die Amplifizierung dichterischen Materials ausgezeichnet. Sprich, und hier sind wir bei meinem Tümpel angelangt, er versteht es, einen Gedanken erst in einem Bild fassen, dieses Bild in ein neues überzuführen und immer weiter, bis sich das Gedicht schließt:
Und leise, wie ein Arzt und eine Mutter, beugten sich die Tage über mich
und fingen an sich zuzuflüstern, während das Gras am Berghang,
wo meine Füße nie mehr gehen würde,
schon platt gedrückt war durch den bitteren Wind.
Mond und Sterne, alte Heldentaten von Erwachsenen
waren ganz oben im Fach verstaut, so dass mein Arm nicht hinkam,
und ich vergebens vor dem verbotenen Bücherregal stand.
Aber schon damals war ich für Vernichtung gezeichnet, wie die Orange
zum Schälen, wie Schokolade, wie eine Handgranate für Explosion und Tod.
Zusätzlich verwandelt sich Amichai Stoffe der Torah an, um ihnen schillernde Bedeutungen abzugewinnen. Zum Beispiel nützt er den Ringkampf Jakobs mit dem Engel als Vorlage für ein erotisches Gedicht («Jakob und der Engel») oder die Opferung Isaaks einmal zur Auseinandersetzung mit seinem Vater («Jom Kippur. Abend. Mein Vater»), ein andermal zur Abrechnung mit dem Krieg («Der wahre Held der Akkedah»):
Der Engel ging nach Hause,
Isaak ging nach Hause,
Abraham und Gott waren schon lange gegangen.Aber der wahre Held der Opferung
ist der Widder.
Dabei steht im Hintergrund von Amichais Gedichten stets die Erinnerung an den Holocaust, sowie das, was man euphemistisch «die Lage im Nahen Osten» nennt, also ein normalisierter Zustand von Krieg und Gewalt, auch wenn sich diese Themen nicht immer in den Vordergrund drängen.
Jerusalem spielt eine zentrale Rolle. In Jerusalem begegnet Amichai der jüdischen, aber nicht nur der jüdischen Geschichte, auch den Touristen, die eben mal einen römischen Bogen abknipsen, ohne sich auf die Stadt und ihre Gegebenheiten einzulassen, und so dem Dichter immer wieder zu Antipoden werden. Jerusalem ist aber auch Schauplatz für die gewalttätige Zerrissenheit der Menschen, die Unsicherheit, ob nicht schon tags darauf alles anders sein werde, die Gegenwart von Vernichtung und Tod. Wichtiger noch sind allerdings die Bewohner der Stadt, das einfache Leben zwischen all jenen Wirren.
Insgesamt ist Amichai also ein dem Alltag wie der Zeitgeschichte gleichermaßen zugewandter Dichter, der vor Lust an Vergleichen und Metaphern sprüht und auch löblich wenig Grund sieht, diese Sprühkraft einzudämmen, nur um sich vor einem gelegentlichen schiefen Bild zu hüten. Esperers unaufgeregten, aber wirkungsvollen Übersetzungen verschaffen einem Schriftsteller Raum, auf den wir achten sollten.
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