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Kritik

Das Fundament der Freiheit

Yavuz Baydars Buch über den Zusammenbruch der türkischen Demokratie
Hamburg

„Seit den Gezi-Protesten war ich nie mehr das tief sitzende Gefühl losgeworden, dass wir in einen im Zeitlupentempo ablaufenden Staatsstreich eingetreten waren.“ Das schreibt der türkische Journalist Yavuz Baydar in seinem im Juni erschienenen Buch „Die Hoffnung stirbt am Bosporus. Wie die Türkei Freiheit und Demokratie verspielt“. Es erschien nur knapp zwei Wochen vor der Wahl, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan uneingeschränkte Macht verschaffte. Heute ist die Türkei eine Diktatur. Keine Gewaltenteilung, keine Meinungs- und Pressefreiheit, mehr als hunderttausend politische Häftlinge, darunter 181 Journalisten.

Als Baydar das Buch schrieb, das merkt man schnell, hatte er selbst schon keine Hoffnung mehr auf einen demokratischen Wandel. Und er kreidet das keineswegs nur Erdogan an, sondern auch seinen Landsleuten, mit denen er hart ins Gericht geht. Die Masse der türkischen Bevölkerung, so sein bitteres Fazit, habe keine Zivilcourage und auch kein Verständnis von Demokratie.

Baydar, Jahrgang 1956, zählt zu den renommiertesten Journalisten des Landes. Er arbeitete für BBC, Cumhuriyet, Sabah, für die inzwischen verbotene und zerschlagene Tageszeitung Zaman, gegen deren ehemalige Mitarbeiter zur Zeit in Istanbul ein Schauprozess läuft. Es sind Baydars Kollegen, die für ihre journalistische Arbeit am Pranger stehen. Heute leitet er von Schweden aus die Redaktion des Exilmediums Ahval, schreibt eine Kolumne für die Süddeutsche Zeitung, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er verließ die Türkei unmittelbar nach dem Putschversuch vom Sommer 2016, weil er ahnte, dass die Lage sich für kritische Köpfe bald verschlimmern würde – und er behielt Recht. Schon am Morgen danach begann eine beispiellose Säuberungsaktion, die bis heute anhält. Zum ersten Mal musste er als Student flüchten, weil er sich an einem Boykott linker Studierender angeschlossen hatte. Das Militär nahm ihn fest, machte ihm den Prozess. Er entschied sich für ein Leben in Freiheit und kehrte viele Jahre später als engagierter Journalist zurück.

In seinem Buch geht er der alles entscheidenden Frage nach: Wie konnte es so weit kommen? Er zeichnet die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte, beginnend mit dem Putsch von 1960, nach, dröselt die gesellschaftlichen und die Parteienkonstellationen auf und analysiert den Aufstieg der AKP, die als Reformkraft angetreten war und spätestens ab 2011, nach systematischer Ausschaltung der alten staatlichen Elite ein Drehbuch abspulte, wie man es schon in vielen Ländern beobachten konnte, die zur Diktatur wurden. Rasch wird ein Kernproblem klar: Die Menschen klammern sich an heroisierte Führungspersönlichkeiten, und dieser Anbetung ordnen sie immer wieder jede Differenzierung unter. Sei es Atatürk, sei es Erdogan, sei es Gülen, sei es Öcalan – alle gesellschaftlichen Gruppen haben dasselbe Problem.

Auch seine Kollegen verschont Baydar nicht. Der Bericht liest sich mitunter wie eine – stets gut begründete, oft ernüchternde – Abrechnung. Er erzählt, wie Medienmenschen sich vor den Karren von Ideologen spannen ließen, wie sie lieber vor den Mächtigen kuschten um vom System zu profitieren, anstatt sich ihre Haltung zu bewahren. Bei Sabah arbeitete er als Ombudsmann, und er ließ in seinen Vertrag schreiben, dass es keine Kündigung geben darf, auch wenn er sich gegen die Linie des Blattes stellt. Als die Gezi-Proteste ausbrachen flog er trotzdem raus, gleichzeitig wurde seine politische Talkshow abgesetzt. Nur bei Zaman, sagt er, habe ihm niemand reingepfuscht. Doch Zaman existiert nicht mehr. Minutiös seziert Baydar die Abhängigkeitsgeflechte innerhalb der Medienlandschaft, die so oft stillschweigend oder opportunistisch akzeptiert wurden, dass es fast zwangsläufig zu der heutigen Situation kommen musste, in der sämtliche großen Zeitungen und Sender vom Staat kontrolliert werden – und alle, die das nicht akzeptieren wollten, entweder in Haft oder im Exil sind.

Es ist ein bedrückendes Buch, aber auch eins, das uns die Mechanismen vor Augen führt, die den Zusammenbruch der demokratischen Verhältnisse in der Türkei bewirkt haben, und von denen sich viele auch auf andere Länder übertragen lassen. Es ist zugleich ein emotionales und wütendes Plädoyer für das freie Wort als Fundament der Freiheit schlechthin.

Yavuz Baydar
Die Hoffnung stirbt am Bosporus
Wie die Türkei Freiheit und Demokratie verspielt
Droemer Knaur
2018 · 256 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-426-27738-6

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