Golo Mann für Spezialisten
1977 begann Thomas Nipperdey mit den Vorarbeiten zu seiner Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Der erste Teil, der die Jahre 1800 bis 1866 behandelt („Bürgerwelt und starker Staat“), erschien 1983 bei C.H. Beck. Es folgten zwei weitere Bände zur Geschichte des Kaiserreichs: „Arbeitswelt und Bürgergeist“ 1990 und „Machtstaat vor der Demokratie“ 1992, wenige Wochen nach dem Tod des Autors. Die drei Bände zusammengenommen, immerhin stolze 2700 Druckseiten oder, wie Paul Nolte nachgemessen hat, 16 Zentimeter Regalplatz, galten bereits wenige Jahre nach ihrem Erscheinen als „der Nipperdey“. Wer in den vergangenen gut 20 Jahren ein Geschichtsstudium absolviert und dabei nicht mindestens einmal zum Nipperdey gegriffen hat, hat entweder das Studienfach verfehlt oder in Bielefeld studiert.
Wobei auch das Bielefeld-Argument nur begrenzt gilt. Schließlich war Hans-Ulrich Wehler, der Übervater der Bielefelder Sozialgeschichte und langjährige wissenschaftliche Antipode Nipperdeys, einer der ersten, der „Bürgerwelt und starker Staat“ in der ZEIT einer kritischen, aber durchaus positiven Würdigung unterzog; und der sehr früh erkannt hatte, es hier mit einem künftigen Klassiker seiner Zunft zu tun zu haben; oder anders formuliert, mit einem Kontrahenten auf Augenhöhe (Wehlers fünfbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700 bis 1990 erschien zwischen 1987 und 2008 bei C.H. Beck).
Der Berliner Historiker Paul Nolte, der vor drei Jahren eine Biographie Hans-Ulrich Wehlers (Untertitel: Historiker und Zeitgenosse, ebenfalls bei C.H. Beck) veröffentlicht hat, hat nun ein Buch über Nipperdeys „Lebens Werk“ geschrieben. Herausgekommen ist eine minutiöse Werkgenese, bei der es nicht nur um die Zusammenführung von Leben und Denken des Historikers Thomas Nipperdey geht, sondern auch um die zahlreichen verlegerischen Begleitumstände, die die Realisierung eines solchen Mammutprojekts mit sich bringen – angefangen bei den Honorarverhandlungen über die Organisation von Rezensionen bis hin zum Versuch, die Lizenzen ins Ausland zu verkaufen.
Am Anfang war die Suche nach einem Verlag. Dabei erwies sich Nipperdey durchaus als gewiefter Taktierer, der seinen Marktwert auszuloten wusste und die Verlage wenn nötig auch gegeneinander auszuspielen verstand. Monetäre Aspekte spielten dabei natürlich auch eine Rolle, standen jedoch nicht an erster Stelle; wäre es allein darum gegangen, hätte das Buch – denn anfänglich war tatsächlich nur ein Band geplant – in der Propyläen Reihe zur Geschichte Deutschlands erscheinen müssen, wo sich Wolf Jobst Siedler sehr um den Autor bemühte. Auch mit Ullstein, Siedler und Klett-Cotta stand Nipperdey wegen einer möglichen Zusammenarbeit im Austausch. Dass es schließlich auf C.H. Beck und Peter Wieckenberg als Lektor hinauslief, war nicht zuletzt dem Renommee des Hauses in den Geistes- und speziell den Geschichtswissenschaften geschuldet. Hinzu kam, dass C.H. Beck auch unter Juristen als exzellente Adresse galt (und bis heute gilt), und bis zum Erscheinen der Deutschen Geschichte der Name Nipperdey vor allem mit Hans Carl Nipperdey in Verbindung gebracht wurde, dem Vater des Historikers, der in Köln Rechtswissenschaften lehrte und dem Bundesarbeitsgericht in Kassel als Präsident vorstand. Für C.H. Beck war es zweifellos ein schöner Coup, beide Nipperdeys als Autoren an Land gezogen zu haben (man hoffte zudem auf gewisse Überlappungen bei der bildungsbürgerlichen Leserschaft), und für Thomas Nipperdey bedeutete es sicherlich auch eine gewisse Befriedigung, wissenschaftlich aus dem Schatten des Vaters herausgetreten zu sein und nunmehr auf Augenhöhe mit diesem zu publizieren.
Der zentrale Gedanke Nipperdeys galt dem Werk, von dem früh klar war, dass es sein Lebenswerk sein würde, und dass er deshalb in der entsprechenden Einheit und Ordnung veröffentlicht sehen wollte. Den bestmöglichen Rahmen hierfür bot C.H. Beck. Nachdem zunächst von einem Band die Rede gewesen war, einer Geschichte des „langen“ 19. Jahrhunderts, war Nipperdey – anfänglich noch in Rivalität mit dem Kollegen Wolfgang Mommsen – frühzeitig dazu übergegangen, eine Teilung im Jahr 1866 vorzunehmen. Die Geschichte des Kaiserreichs sollte, nicht zuletzt um die Abgrenzung zu Wehlers Kaiserreich von 1973 zu verdeutlichen, in einem separaten Band erscheinen. Da ihm aber der Stoff erneut aus dem Ruder lief, waren am Ende sogar zwei Bände erforderlich, um die Zeitspanne 1866 bis 1918 abzudecken. Doch auch hier erwies sich C.H. Beck als ein flexibler Partner, so dass einer Ausdehnung des Werkes – zumal der Verkaufs- und Kritikererfolg des ersten Bandes (1983) dies unterstütze – nichts im Wege stand. Am Ende wurde die Fertigstellung des Opus Magnum für den schwer an Krebs erkrankten Nipperdey zu einem Wettlauf mit der Zeit, den er durch unermüdliche Arbeit für sich entschied, so dass er wenige Wochen vor seinem Tod ein Vorabexemplar des dritten und letzten Bandes seiner Deutschen Geschichte in Händen halten konnte.
Paul Noltes Buch ist trotz der großen Detailverliebtheit des Autors eine anregende und informative Studie, die nicht nur die Entstehung eines der großen Werke der deutschen Geschichtsschreibung der vergangenen Jahrhunderte präzise nachverfolgt, sondern zugleich auch die grundsätzliche Bedeutung des Mediums Buch in den Geisteswissenschaften in den Mittelpunkt rückt. Deutlich wird außerdem, dass derlei Werke nur vorgeblich im vermeintlichen Vakuum des universitären Elfenbeinturms – im Falle Nipperdeys waren dies vor allem München und Stanford – entstehen, sondern in Wahrheit tief eingebettet sind in die gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftspolitischen Debatten ihrer Zeit. Bei Nipperdey, der sich selbst einmal als einen melancholischen Skeptiker bezeichnete, war dies zweifellos die lebenslange Reibung mit der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, als deren exponiertester Repräsentant Wehler galt. Der Szientifizierung der Geisteswissenschaften, die den sozialen Strukturen ein klares Prä gegenüber den handelnden Akteuren einräumte und kulturelle Zusammenhänge in den Hintergrund rückte, stellte Nipperdey seine bis heute wirkmächtige Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zur Seite.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben