Letter für Letter, Wort für Wort.
Zwiebelfische ist ein Film über Jimmy Ernst, ein Film über die Buchdruckkunst und ein Film über die Druckerei Augustin. Zwiebelfische ist kein Film über Jimmy Ernst, kein Film über die Buchdruckkunst und kein Film über die Druckerei Augustin. Zwiebelfische sind einzelne Bleilettern, die nach Schriftcharakter und Zuordnung in ein falsches Fach eines Setzkastens abgelegt wurden, die unter tausenden von Lettern nicht wiederzufinden sind.
Der Film erzählt die Geschichte des jungen Jimmy Ernst, Sohn von Max Ernst und Louise Straus, der in jungen Jahren auf Anraten seiner Mutter ein Handwerk erlernen soll und durch freundschaftliche Verbindungen zu einer Druckerei in Glückstadt dort seine Lehre beginnt. Die Geschichte des Jungen wird in knappen Sätzen von Burghart Klaußner erzählt, Hintergründe zur Kindheit und Jugend bleiben weitgehend im Dunklen. Schauspieler werden durch dokumentarisches Material ersetzt.
Der Ich Erzähler führt mit leichter, sachlicher Stimme durch das kurze und aufregende Leben Jimmy Ernst‘ in Glückstadt. Die Kamera wird in diesem ersten Teil des Films dokumentarisch geführt und trotzdem wird der Betrachter von Beginn an in den Bann gezogen. Ein Grund dafür ist sicher, dass die Informationen über Jimmy Ernst so sparsam präsentiert werden und man sofort mehr wissen will.
Max Ernst hatte also einen Sohn! Eine jüdische Frau, von der er sich kurz nach der Geburt des Sohnes bereits wieder getrennt hatte, um mit einer anderen in Paris zu leben. Wie ist dieser Junge aufgewachsen, was für eine Frau war seine Mutter, hatte er Kontakt zu seinem Vater, wie hat er sich gefühlt, einsam und verlassen von seinen Eltern in Glückstadt unter der Obhut von Heinrich Augustin? Alle diese Fragen werden nicht beantwortet. Nein, Jimmy Ernst erzählt von Lettern, von Büchern, von Rilke‘ Gedichten, von wissenschaftlichen Werken, von Anthropologen aus den USA, deren Publikationen in Glückstadt gedruckt wurden - während die Kamera intensiv über Setzkästen, Zirkelkästen und Gießmatrizen fährt und der Betrachter im Handwerk der Schriftsetzerei versinkt. Virtuose Klänge der Musikerin Ulrike Haage untermalen technische Prozesse und es entsteht ein Verständnis für die Ästhetik der Buchdruckkunst, während sich gleichzeitig der Blick für technische Abläufe öffnet.
Der Geschäftsführer der Druckerei Augustin, Walter Prueß, der heute noch in Glückstadt am selben Ort arbeitet, erzählt mit Wehmut vom historischen Kauf der Monotype Tastaturen, von technischen Details einzelner Gießverfahren. Er blättert in Büchern, in denen früher die Namen der Angestellten penibel genau gelistet waren, findet Jimmy Ernst und man bekommt den Eindruck, er weiß nicht wirklich genau, um wen es sich da handelt. Kaum ein Satz endet ohne nicht zu betonen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Bücher auf diese Weise entstanden sind, das alles verloren und vorüber ist. In den Zeiten des digitalen Drucks, in Zeiten in denen das Korrigieren von Fehlern eine Sache von Sekunden ist, nimmt man die früher aufwändigen Prozesse des Druckes und der Schriftsetzerei nicht mehr wahr.
Zwei Sinologen führen beispielhaft den Druck eines einzigen Wortes in Chinesischer Sprache vor und demonstrieren, mit welchem hohen Maß an Kenntnis von fremden Sprachen ein Schriftsetzer ausgestattet sein musste, um dies umzusetzen. Ein fehlerhaft einsortiertes Zeichen zog stundenlanges Suchen und somit Arbeit nach sich. Sie alle wirken verloren und unzeitgemäß in den heruntergekommenen Räumen der Druckerei.
Als sei nicht viel gewesen, erzählt Jimmy Ernst von den Drohungen der Nazis, denen er und Heinrich Augustin, sein damaliger Lehrherr ausgesetzt waren. Sie führten dazu, dass Jimmy als Jude seine Lehre abbrechen musste und nur durch die Hilfe der vielen Verleger und Wissenschaftler, die bei Augustin ihre Bücher drucken ließen, eine Ausreise in die USA möglich war. Jimmy‘ Emigration war eine Erlösung, das Suchen und Finden eines Platzes, ähnlich einer Letter, die aus dem Setzkasten gefallen war.
Im letzten Teil des Filmes wird im Zeitraffer das Leben in den USA erzählt, seine vorsichtige Annäherung an den Vater, seine Arbeit als Künstler und Maler. Seine Ehefrau Dallas erscheint in einem Interview, dass anlässlich einer Ausstellung 2009 in der Nationalgalerie in Berlin mit ihr geführt wurde. Fast beiläufig erzählt sie, dass Jimmy wie so viele Juden, die den Holocaust überlebt haben, nicht viel über seine Jugendjahre in der Nazizeit in Deutschland erzählt hat. Nicht zuletzt deshalb, weil seine Mutter, die verzweifelt versuchte hatte Europa zu verlassen, mit Transport Nr. 76 von Drancy nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde.
Es dauert eine Weile, bis man aus der fast imaginären Welt dieses Filmes aufwacht. Die poetische Darstellung der Geschichte, die durch die atmosphärische Szenerie der alten Druckmaschinen und Buchstaben und den Auftritt noch lebender Personen aufgeladen wird, spiegelt eine vergangene Zeit, während man die tragische Geschichte des halbwüchsigen Jimmy Ernst und den Mord an seiner jüdischen Mutter als Koordinaten einer historische Zeitachse begreift. Der Film führt in viele Richtungen, bezieht nie Stellung, lässt politische Aspekte häufig aus und entwickelt sich auf wundersame Art zum Mahnmal gesellschaftspolitischer Ereignisse am Beispiel des Künstlers Jimmy Ernst und seiner Lehrdruckerei Augustin in Glückstadt. Was bleibt ist die Erinnerung, die Geschichte der Verschriftung von Sprache, der Versuch das gedruckte Wort als Mittel für gegenseitiges Verständnis unabhängig von menschlichen Kulturen zu dokumentieren. Der Film fällt aus der Zeit wie die Lettern aus dem Setzkasten.
PS: Beim Setzen des Titels Zwiebelfische sind wir an unsere Grenzen gestoßen. Unser Programm beherbergt lange nicht alle Schriften und Zeichen ...
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