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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Wie man ein ganzes Jahrhundert gegenwärtig und einen fast hundertjährigen Helden glaubhaft macht

„Was Hans Joachim Schädlich in seinem neuen Roman an geschichtlichem Material, an Zeitläuften zusammenfügt und organisiert, würde anderen Schriftstellern gleich für mehrere dickleibige Bücher ausreichen. Von Historikern ganz zu Schweigen. Einem Schädlich dagegen, einem Sprachbeherrscher von naturwissenschaftlicher Exaktheit, einem Verknapper, Lakoniker, Stoiker, genügen dafür knapp 200 Seiten.“ konstatierte Christoph Schröder in der taz. Und die ZEIT befand: „Für ihn gibt es keine Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart; seine Bücher wurden meist zu skeptischen Parabeln über die Abgründe der menschlichen Natur.“ In seinem letzten Buch erzählt Schädlich von Gräsern und wie sie sich immer wieder aufrichten – oder: wie man ein Jahrhundert gegenwärtig und einen fast hundertjährigen Helden glaubhaft macht, indem man ihn fast alles verschweigen lässt, was ihn bewegt hat, und nur die Richtung beschreibt, in die er gegangen ist.

Der emeritierte Bilogieprofessor Kokoschkin ist 95 Jahre alt und auf dem Weg zurück in die USA. Er reist mit dem Luxusdampfer Queen Mary 2, aber vor allem reist er mit einer großen Vergangenheit. Die Schiffsreise ist der Abschluss einer Reise, die Kokoschkin mit Jakub Hlavácek gemacht hat, durch Europa, zurück zu den Orten, um die sich Kokoschkins Leben gedreht hatte. Er machte diese Reise vielleicht um sein Gleichgewicht wieder zu finden, oder um auf dem Schiff schließlich eine gewisse Beruhigung zu finden. „Das Schiff eine Insel. Kokoschkin unerreichbar. Die Aussicht auf eine gleichmäßige mittlere Geschwindigkeit. Besinnung auf die Bilder der Vergangenheit."

So besinnt sich Kokoschkin auf Vertreibung, Verfolgung, Verlust, erinnert sich an Iwan Bunin, Wladislav Chodassewitsch und seine Mutter, an Prag, Berlin und Petersburg, an die Gräser von Nebraska und ein neues Leben in den Vereinigten Staaten. Er erinnert sich nüchtern, fast stichworthaft. Er erinnert sich wie einer, der keine Zeit mehr hat, zu erzählen. Wie einer, der sich nur an das Nebensächliche erinnert und gerade dadurch das Hauptsächliche erzählt. Wie einer, der weiß, wie weit Grassamen fliegen und wie man trotzdem nach Hause kommt. Wie einer, der alles verliert und versteht, sich mit den Verlusten einzurichten.

Als Leser bleibt man außen vor und steigt gerade deshalb tief ein in diese Geschichte von einem, der selbst das Jahrhundert zu sein scheint. So gleichgültig und grausam. So nüchtern und fassungslos. Es sei besser, durch die Beschreibung der Sache Gefühle hervorzurufen, als die Gefühle selbst zu beschreiben, zitierte Ulrich Rüdenauer den Autor in seiner Rezension im Tagesspiegel.

„Was für finstere, anrührende, erbarmungslose Tiere wir doch waren“, schreibt Antonio Lobo Antunes und das ist eine andere Geschichte, aber dass sie hier hereinpasst, liegt an den Gräsern und Halmen, die nicht nur viel Platz lassen für den Wind der Veränderung, dem sie sich bedingungslos hingeben müssen, sondern die außerdem diese Fähigkeit haben, sich immer wieder aufzurichten, wenn sie niedergedrückt worden sind.
Kokoschkin, dieser Spezialist für Gräser steht am Ende des Buches am Flughafen:

„Nach Boston.
Nach Hause.“

Und der Leser betrachtet das Gras unter seinen Füßen und denkt nach.

 

Hans Joachim Schädlich
Kokoschkins Reise
Rowohlt
2010 · 192 Seiten · 17,95 Euro
ISBN:
978-3-498064013

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