Feuilletozän
Dass nicht nur die deutschsprachigen Lyriker*innen, sondern auch die Weltgemeinschaft der Geologen das Zeitalter des Anthropozän ausgerufen haben, entnehmen wir Hartmut Böhmes einführendem Beitrag in der eben erschienenen ersten Ausgabe der Zeitschrift "Dritte Natur". Nicht ganz klar ist (mir), ob die Schlagworte "Technik - Kapital - Umwelt" auf der Titelseite das Thema der Ausgabe oder das Motto des Zeitschriftenprojekts insgesamt darstellen. Böhmes Aufsatz deutet eine mögliche Leserichtung an –
Vergessen wir nie, dass dem biophysikalischen Universum der Erde ein semiotisches Universum entspricht. Die Erde ist auch eine aus Zeichen gesponnene Textur, seit der Urgeschichte bis heute ohne Unterlass besprochen, besungen, benannt, bezeichnet, beschriftet, vertont und bedichtet.
–, aber ob die vorliegende Textsammlung (meiner Interpretation) dieses Serviervorschlags gerecht wird, ist eine andere Frage. Es geht schon auch einen ganzen Abschnitt lang (vier Aufsätze und vier Gedichte) um "Wege der Literatur" angesichts des Anthropozäns, und Herausgeber Steffen Richter, selber vertreten mit "Die große Erzählung. Literarische Narrative des Anthropozäns", ist nicht umsonst Literaturwissenschaftler. Doch die Mehrheit der Beiträge (sieben der restlichen acht) darf eher der Textsorte "Naturwissenschaftsfeuilleton" (bzw. halt Technikphilosophie) zugeschlagen werden. Gemeinsam ist den Beiträgen, dass sie um die prinzipielle Möglichkeit von Perspektivenwechseln (Plural) zwischen Welt, Mensch, Erde kreisen. Das heisst, hier kaum übersehbar, auch: um die Möglichkeit multipler Perspektivenwechsel zwischen Akademia/Diskurswelt, "erster Natur" und dem Menschen als Gattungswesen:
Reden über welche Welt, im Dienste was für einer vorgestellten Welt? Schreiben angesichts welcher tatsächlichen Leser*innen, und für welche [anderen]? Vor allem: welche Rolle spielt das ganze Erkenntnisspiel, da (mit Diderot, erneut nach Böhme) die ganz reale Möglichkeit besteht, dass
[d]as Weltall verstummt. (…) alles verwandelt sich in eine ungeheure Einöde, in der sich Erscheinungen – unbeobachtete Erscheinungen – dunkel und dumpf abspielen.
Die Spannweite reicht vom sehr Anekdotischen – Val Plumwood, die in "Opfer sein" davon berichtet, wie sie die Attacke durch ein Krokodil nur knapp überlebt hat, und die an diesen Bericht auf stilistisch unwiderstehliche Weise einen recht umfangreichen Apparat von, sagen wir, aufklärungsskeptischem Denken hängt (dem ich nicht zustimmen muß, um seine Herschreibung aus dem Maul des Fressfeindes interessiert zu verfolgen) – über das skrupulös Empirische – so, wenn Birgit Schneider am konkreten Fall vor uns ausbreitet, wie genau das funktioniert, dass wir an Meßdaten über den Zustand von Baumpopulationen und selbst über das Klima selber kommen, und was mit diesen Daten geschehne kann – bis zum, wie gesagt, Selbstreflexiven der Literatur- und sonstigen Kulturwissenschaften – so, wenn Michael Gamper das Wissen vom Wetter und zugehörige Vokabeln literarisch herleitet.
Alles, was in Dritte Natur #1 vorkommt (und das schließt dann auch den einen bildnerischen Beitrag ein, die Collagen von Heidi Sill), berührt jedoch an irgendeiner Stelle das Utopische, mit Bloch (den ich gleichwohl nirgends explizit zitiert finde) die dreams of a better life, die jenen oben angedeuteten Perspektivenwechsel zwischen Ich und Welt (je nach Philosophie) entweder voraussetzen oder nach sich ziehen. (Einen möglichen roten Faden durch den Band mag seine Lektüre als Pingpong-Spiel zwischen eher technikskeptischen und eher technik-affirmativen Standpunkten liefern; zwischen Praxen der Reflexion und Reflexionen über die konkrete Praxis bei der Wartung des1 spaceship earth, wie es die Hippies und die Hippie-adjacent Wissenschaftler weiland nannten.
Gemeinsam ist den Texten zweitens – und (für mich) wesentlich überraschender – dass sie sämtlich, ohne ihren Standpunkt, ihre "Message" aufzugeben, unterhaltsam lesbar und unter Aufbietung überraschend konsistenter Stilsicherheit komponiert sind.
Fazit zu dieser Dritten Natur #1: Als übersichtlicher und untypisch unterhaltsamer Reader zum Anthropozän-Thema ist der Band jedenfalls empfehlenswert; wie die Zukunft einer Zeitschrift aussieht, die diesen Reader als ihre erste Nummer hat, darauf darf man gespannt sein.
- 1. ebenfalls nicht explizit als replizierte Trope genannten
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