Warum gehst du, wenn du fliegen könntest?
Der neue Gedichtband von Stefan Heuer und Urs Böke ist als Gedicht-Dialog konzipiert und enthält vier farbige Collagen von Stefan Heuer, sowie zwei Collagen, die Urs Böke in Schwarzweiß gestaltet hat. In der zweiten Arbeit von Urs Böke, die den Titel „Exquisit depressiv“ trägt, sieht man drei melancholische Frauen. Im Hintergrund sind ein Soldatenfriedhof mit einem Totengräber und ein Gesicht in mehreren Dutzend Variationen dargestellt. Die Collage passt zu den teilweise morbiden Versen der beiden Autoren.
Die Gedichte besitzen keine Titel und auch kein durchgängiges Thema. Es sind die Anfangszeilen, die die Texte miteinander verbinden. Die Endzeilen der Gedichte bilden die Anfangszeilen der nachfolgenden und inspirieren die Autoren für den jeweils nächsten Text. Auf diese Weise spielen sich die Dichter die unterschiedlichen Themen wie Tennisbälle zu, und es entsteht ein erstaunliches Textgeflecht mit teils sehr mutigen Bildern. „Deine morgendliche Zeitung ist ein Sägeblatt“ schreibt Urs Böke. „deine morgendliche zeitung ist ein sägeblatt/ ist ein spiegel aus blei und nichts ist so alt wie/die späne von gestern“ antwortet darauf Stefan Heuer.
Die beiden Autoren brennen ein Feuerwerk von Metaphern ab. Das Poème Collectif steckt voll kühner Wendungen und Überraschungen: „die Kindheit geht vorüber, doch der Tod geht nicht, er wartet an der Ampel“, „…der blick ins leere, auf ein gleisbett ohne schienen, auf die ausradierte hoffnung, auf die Möglichkeiten von Stahl und Eisen…“. So verdichten sich die Verse von Böke und Heuer zu einem einzigen Gedicht. Es sind immer wieder die Todesmetaphern, die den Text tragen und den roten Faden bilden: „wenn es soweit ist, sollen sie uns höher hängen.“, „der tod trägt alte kleider“, „eine scharfe klinge ist alles, was du brauchst/ das ist der Abspann in deinem Leben“. Die Verse schlagen Wunden, in denen die Dichter die Asche sind. „Dichter sterben einsam pleite und wahllos/ Sie hinterlassen nichts nur Gräber sie sind/ Asche und düngen die Menschheit“. Mit dieser Erkenntnis von Urs Böke schließt auch das Buch.
Stefan Heuer schreibt seine Gedichte in dreizeiligen Versen. Er montiert Zitate „dort am kanülenkrater/ blühen schon die fingerkuppen“ in das Textgeflecht ein, die er durch eine kursive Schriftart kennzeichnet und mit einem Doppel-Slash einleitet. Im Gegensatz zu Urs Böke schreibt Stefan Heuer konsequent klein. Die Gedichte von Urs Böke sind drei- bis vierzeilig gesetzt und kommen fast ohne Interpunktion aus, was den Fluss der Texte beschleunigt und den Eindruck von Verwobenheit verstärkt.
Beim Lesen der Gedichte von Böke und Heuer hat man das Gefühl, durch eine Textsammlung zu rasen, in der die mutigen Bilder der beiden Autoren am Leser vorbeifliegen, ungeahnte Zusammenhänge bilden und neue Sichtweisen eröffnen „… doch da, wo du mal losgefahren bist, kommst du nie wieder an.“
alle, die für mich sterben würden, sind bereits tot.
da ist die oma, die im krieg und in den jahren danach
kein fleisch mehr mochte, damit andere es mögenkonnten, da ist der freund, der an der oberleitung
verdampfte, und nicht viele kamen so glimpflich
davon / auch ich war young & free, aber nicht lange.dein kopf in der schlinge, während sich das vinyl
noch drehte//sing me a line of your favorite song,
da wüsste ich gar nicht, wo ich anfangen sollte,und nicht nur du wärst überrascht, wo es endet.
die nächste runde rückwärts: mag sein, doch da,
wo du mal losgefahren bist, kommst du nie wieder an.heuer
Wo du mal losgefahren bist kommst du nie wieder an
wo du angekommen bist liegt Schwefel über den Gleisen
da wo du wartest heißt es immer nur:Nicht bei Tod gehen Nicht bei Tod gehen Nicht bei…-
Und Du hast immer noch ein paar Scheine in den
Kinderhänden
und noch immer fährt der Eiswagen an dir vorüber
das Grinsen von Steve Buscemi hilft nicht weiterNicht bei Tod gehen Nicht bei Tod gehen Nicht bei…-
Und genau jetzt schläfst du irgendwann ein
träumst von Orten und von (sich) drehenden Kneipen
spürst noch die Asche in deinen SchürfwundenDie Kindheit ist vorüber doch der Tod geht nicht.
böke
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