Dass man ganz still sein musste, wussten wir alle
Die Friedenauer Presse hat die Erinnerungen Edward Dębickis herausgegeben. Dębicki, Komponist, Akkordeonist, Initiator und Leiter des Romane Dyvesa Musikfestivals, gehört zur Gruppe der Polska Roma. In den Erinnerungen berichtet er, geboren 1935, von den Vorkriegsjahren, einer Innensicht auf eine Kindheit, die prinzipiell "unbeschwert" verläuft, wenn auch von ständiger Benachteiligung und Neugier heimgesucht. Das fahrende und musizierende Schicksal der Familie wendet sich schlagartig in nacktes Überleben, als der Zweite Weltkrieg ausbricht, und aus einer, wenn auch nie wohlhabenden, Familie werden Verfolgte, die buchstäblich nichts mehr haben als ihre hungernden Leiber, die in Sümpfen und Wäldern sich verstecken und sich von Tee aus gerupften Brennnesseln ernähren. Die Entbehrungen, die Dębicki schildert in einer schlichten und von sehr eigenen Redewendungen durchzogenen Sprache, sind Zeugnis einer an Barbarei und Chaos wohl kaum zu überbietenden Epoche jüngerer Geschichte. Die entvölkerten Gebiete Wolhyniens, wohin es sie verschlägt, sind, obwohl nie unmittelbar an der Front gelegen, durchzogen von Horden Bewaffneter, die alles und jeden in bloßer Mordlust bedrohen. Die Fliehenden versuchen jeweils, sich an die Situation anzupassen, wechseln Sprachen zwischen Romanes, Deutsch, Polnisch, Russisch, Ukrainisch etc., aber was sie auch machen, man hat es auf sie abgesehen, beziehungsweise: wer die Waffe hat, steht auf der "gültigen Seite". Dębicki versteht es, in einem reduzierten Fluss von Kapiteln, die wie filmische Miniaturen wirken, Szene um Szene aneinander zu haften, ohne je mehr zu sagen als nötig. In beinahe jedem Abschnitt "werfen sie sich in die Flucht" oder aber finden sich unverabredet an Orten ein, "weil sie es so in der Zukunft gelesen haben". Die perspektivische Logik der Romasicht ist ein faszinierender und schwer erschütternder Blick auf eine dunkle Zeit, und natürlich ist das Ende des Krieges ein Jubel, doch heißt das nicht, dass die "gewohnte" Diskriminierung nun überwunden wäre. Das "back to normal" heißt nach wie vor genau das.
Das gut gestaltete Buch wartet mit Familienfotos der Dębickis auf, ihre Instrumente (mehrere Harfenisten im Orchester u.a.), Wagen und viele Portraits, sowie Auszügen aus einem längeren Gedicht über die Zeit der bekannten Lyrikerin Bronisława Wajs-Papusza, seiner Tante:
Schnee fiel so reichlich wie Blätter,
hielt unseren Weg auf,
so groß war der Schnee, dass er Räder verschlang
[...]
Die Übersetzung von Karin Wolff ist nichts weniger als großartig (wohl eine ihrer letzten Arbeiten). Deutlich abzulesen die, wie angesprochen, besondere Art Edward Dębickis zu erzählen. Seine Verwendung von festen Redewendungen, eine Mischung aus altertümlich anmutend und gleichzeitig verknappt auf wenige, satte Details.
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