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Kritik

Die Bedeutung von Zeit

Deutscher Buchpreis 2018 für Inger-Maria Mahlke
Hamburg

Fünfundneunzig Jahre alt ist Julio Baute – Julio, el Portero – zu Beginn von Inger-Maria Mahlkes neuem Roman. Er mag zwar die Kirche nicht sonderlich, die Nonnen aber umso lieber, so ist er als Pförtner in einem katholischen Altenheim gut aufgehoben. Anders als seine Enkelin Rosa, die nach einem mehr oder weniger gescheiterten Kunststudium wieder zuhause auf den Kanarischen Inseln angespült wird und wenig mit sich anzufangen weiß, ist ihm sein Platz sicher. Ana, Rosas Mutter, hat den ihren in der Politik gefunden, Vater Felipe in seinem Garten. Felipe ist von nobler Abstammung; in seiner Familie, bei den Bernadottes, gab es einige Grafen, deren Ölportraits noch finsteren Blickes in die Gegenwart schauen.

Inger-Maria Mahlkes Roman führt immer tiefer in die Vergangenheit, beginnt 2015, um dann rückwärts ein ganzes Jahrhundert Inselgeschichte zu erzählen. Natürlich gibt es ähnliche Formen längst, da ist zum Beispiel F. Scott Fitzgeralds Kurzgeschichte The Curious Case of Benjamin Button, oder Ilse Aichingers auf wenigen Seiten ein Leben von der Beerdigung bis zur Geburt erzählende Spiegelgeschichte. „Die Zukunft ist vorbei“, heißt es bei Aichinger, „die Zukunft ist ein Weg am Fluß, der in die Auen mündet.“ Teneriffa ist auf den ersten Blick auch das reinste Auenland, so sonnenverwöhnt, dass dort sogar Bananen und andere „Wunderfrüchte“ gedeihen. Auf den zweiten Blick sind die Kanarischen Inseln, eher wegen als trotz ihrer geopolitischen Besonderheiten, ein Schauplatz europäischer Geschichte, die Mahlke auf dem begrenzten Terrain Teneriffas verdichtet und anhand dreier Familien über mehrere Generationen hinweg erzählt. Sie setzt den Fokus mal auf die (wegen ihrer faschistischen Vergangenheit mindestens umstrittene) Noblesse. Dann auf die hart schuftende Mittelschicht, der etwa Julio Baute angehört. Und auch auf Frauen, die von allen Seiten ausgebeutet werden und keinerlei Privilegien genießen, zoomt Mahlke im Lauf des Romans noch heran: die Haushaltshilfe Merche und ihre Töchter, Mercedes und Eulalia.

In „Archipel“ scheinen viele Zusammenhänge zunächst lose; ohne das Namensregister und ein umfangreiches Glossar mit den vielen spanischen Begriffen, die Mahlke einstreut, wäre man gerade am Anfang des Romans wohl ziemlich orientierungslos. Es kommt schnell eine Ahnung auf, dass die Familiengeschichte der Bernadottes so ihre Abgründe und Schlaglöcher hat, aber welche Familiengeschichte hat das nicht? Die Vergangenheit wird schließlich immer enger eingekreist, mit jedem Kapitel erschließen sich die Dimensionen dieser – auch politischen – Abgründe. „Am Anfang hatte Felipe vorgehabt, eine Stiftung zu gründen“, heißt es. „Seine Aufgabe war es, aufzuarbeiten, ans Licht zu bringen, und wenn ihn die Universität nicht dabei unterstützte, würde er es alleine tun. Gesellschaft zur Aufklärung der frankistischen Repression hatte er sie nennen wollen.“ So hat Felipe sich aus der Universität und in seinen Garten zurückgezogen. Sein Glück findet er freilich auch dort nicht, so einfach macht es sich Inger-Maria Mahlke weder selbst noch ihren Leser*innen, und den Figuren schon gar nicht. Die Politik jedenfalls überlässt Felipe seiner Frau Ana. Als wegen eines unter dubiosen Umständen verunglückten Mannes die Presse vor der Tür steht, steht er teilnahmslos daneben, während Ana und ihre Assistent*innen sich darum bemühen, unaufgeregt zu wirken und mögliche Gerüchte im Keim zu ersticken.

Durch ihre Unentschlossenheiten, ihre inneren Konflikte und Widersprüche werden die Figuren erst richtig plastisch.  Konstruiert oder schemenhaft wirkt Mahlkes Erzählen auch deshalb nie. Wenn etwa Felipe von seiner Mutter träumt, der die Perlenkette vom Hals baumelt, während sie, widerstrebend, aber tapfer, im Garten Süßkartoffeln ausgräbt, dann steckt in einem einzigen Bild eine über Generationen gewachsene Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte.

Zu Beginn schleppt sich die Handlung so dahin und droht sich in Details zu verlieren, von denen man noch nicht weiß, ob sie noch einmal wichtig werden oder nicht. Aber dann nimmt der Roman Fahrt auf, und wie. Die historischen Ereignisse werden dabei meist nicht bis ins Detail ausgeleuchtet, manchmal werden sie nur wie von einem Stroboskop kurz und grell angestrahlt. So wie auch die Figuren teils politische Akteur*innen sind, teils einfach nur beobachten, so sehr changiert mitunter die Perspektive, aus der „Archipel“ erzählt. Ein Junge, Jabi, sprayt „SOL“ an die Wände von Bauruinen, das Kürzel steht für Sahara Occidental Libre. Sein Freund Einar sprayt die letzten Buchstaben seines Vornamens, und er bremst Jabi, wenn dieser über die Westsahara ins Monologisieren kommt – das an Rohstoffen reiche Gebiet war bis 1975 spanische Kolonie, danach marschierten trotz Unabhängigkeitsbestrebungen Marokko und Mauretanien ein. Jabi könnte viel länger darüber sprechen als die Viertelstunde, die Einar im zugesteht. Einar würde auch gern sagen, was in ihm vorgeht („Ich hatte Sex. S-E-X.“), kriegt aber den Mund nicht auf. Solche Kontrapunkte sitzen stets an der richtigen Stelle, auch bei den Dialogen zeigt Mahlke ein beeindruckendes Gespür für den passenden Ton, die Feinheiten. Ganz schön viele Fäden, die da zu einem engmaschigen Textgewebe verwoben werden. Dann ist da noch der Spanische Bürgerkrieg, Francos Staatstreich. Irgendwann kommt ein Schiff und eine Handvoll Surrealisten gehen von Bord: André Breton, Benjamin Péret. Und dann bricht auf der Insel, die ihres warmen Klimas wegen noch manchen Asthmatikern Linderung versprechen wird, eine Grippewelle aus. Menschen sterben, fliehen, kommen zurück; Systeme werden gestürzt, Denkmäler abgerissen, Straßen und Plätze bekommen neue Namen.

„Seltsam, wie einen das Leben die Bedeutung von Zeit lehrt“, heißt es im Roman. Inger-Maria Mahlkes Zugang zu den verschiedenen Zeitebenen und ihre Fähigkeit, die Zeit mal zu dehnen – zum Beispiel durch schmerzhaft präzise Beschreibungen von Alltagsmomenten – und dann wieder zu raffen, manches ungesagt zu lassen oder nur anzudeuten, ist durchweg souverän. Der Roman ist noch dazu im Präsens geschrieben, was wohl auch dazu beiträgt, dass die Ebenen trotz der teils großen Zeitsprünge zwischen den Kapiteln (und ihrer sehr unterschiedlichen Länge) halbwegs mühelos ineinanderfließen.

„Das Kapital dieser Insel ist ihr Licht“, sagt der deutsche Blumenmogul Heinrich Wiese, der eine Gärtnerei auf Teneriffa eröffnen will. Mehr als 350 Tage im Jahr scheint die Sonne auf der Isla de la Eterna Primavera, der Insel des ewigen Frühlings. Kein Wunder also, dass es auch der Schatten hier besonders schwarz scheint.

Inger-Maria Mahlke
Archipel
Rowohlt
2018 · 432 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-498-04224-0

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