„aber Menschen; Menschen in die convention.“
Anthologien sind immer ein Eingeständnis an den Literaturbetrieb. Ein Mensch mit Expertise wird dazu auserwählt, ein von ihm auserwähltes Literaturfeld abzustecken, im Wesentlichen dadurch, dass er auswählt, wer dort Platz hat — und wer halt nicht oder vielleicht beim nächsten Mal. Beliebte Kategorien sind Alter, Pass, Wohnort, Zeitraum. Das ist strukturell unspektakulär, wirkt beliebig, scheint purer Publikationszwang zu sein. Nicht wenige Anthologien sind das Literatur-Pendant zu den ungelesenen Tagungsbänden in der Wissenschaft. Aber ganz ohne Vermittlung geht es nun mal auch nicht. Wie viele entdeckten die Dichtung überhaupt erst für sich durch die expressionistische „Menschheitsdämmerung“ von Kurt Pinthus? Hatte Rolf Dieter Brinkmanns und Ralf-Rainer Schygullas „ACID. Neue amerikanische Szene“ nicht zumindest potenziell einen begrüßenswerten Impact auf die Literatur-BRD? Anthologien können also auch etwas in Gang setzen, programmatisch, dringlich sein.
In Zeiten von Lyrik im Internet, wo sich Autoren potenziell Allen präsentieren können, sobald sie vorm Kurator bestanden haben, erübrigt sich für einige Leserschaften die Anthologie in Buchform sicherlich. Besonders bewanderte Leute wollen eh lieber ein Werk als Werk, einen Band als Band auseinandernehmen. Vielleicht hat ein Anthologist aber auch manchmal ein glücklicheres Händchen als der Autor selbst bei der Qual der Auswahl, was nun in einen Band kommen soll. Am fairsten beurteilt man eine Anthologie wohl mittels ihren eigenen Prämissen — und damit zum blauen Taschenbuch, um das es gehen soll.
Steffen Popps „Spitzen. Gedichte. Fanbook. Hall of Fame“ ist sich der ganzen Sammel-Problematik wohlbewusst, wie es die Untertitel verraten. Dass das Buch oft verschoben wurde, ist vielleicht auch ein gutes Zeichen, dass sich der Lyriker wirklich Mühe gemacht hat bei der Zusammenstellung seiner Lieblingsgedichte aus den letzten 20 Jahren. Da die Auswahl also einfach durch subjektiven Geschmack und die zeitliche Grenze begründet wird, ist sie zumindest ein sehr ehrliches Eingeständnis, dass hier schlicht eine „so weit wie möglich eigenmächtige Auswahl, ohne Rücksichtnahmen, Rechtfertigung und Versicherung, aufs Beste versichert durch die Gedichte selbst“ vorliegt. Man hat es mit einem Buch ohne wirklichen Anlass zu tun, die meisten vertretenen Stimmen waren zu erwarten — in diesem Buch entdecken Leser, die mit der Gegenwartslyrik gut vertraut sind also keine neuen Namen. Aus der Frage, wer der eigenen Meinung nach hier fehlt, hat wiederum schlicht nichts mit Popps Lektüreerfahrungen zu tun. (Oswald Egger, Christian Filips vermisse ich zum Beispiel dann doch.) Etwas ärgerlich scheint bei allem nur, dass die Grenze der letzten 20 Jahre auch das Erscheinungsdatum der Gedichte betrifft: Ein dichterisches Werk in seiner Entwicklung nachzuvollziehen, geht so nicht. (Und man darf vermuten, dass Popp nicht alles, was die Auserwählten vor mehr als 20 Jahren veröffentlicht hatten, da bereits schon kannte.)
In seinem Vorwort reflektiert er über Entwicklungen der letzten Jahre: Es scheint wohl keinen Gegenstand mehr zu geben, der per se unpoetisch ist; es wird mehr über Sprechhaltungen und -positionen reflektiert; „Komplexität und innere Disparatheit“ der Gedichte hat natürlich mit der Welt heute zu tun, und gerade dank dieser Eigenschaften fahren sie „ästhetische Gegenprogramme“ was Konformität und so angeht: Dem kann man kaum widersprechen, weil damit kaum etwas gesagt ist. Am Ende — immerhin — wieder das sympathische Eingeständnis, der Herausgeber hoffe, dass die Lektüre „doch einige Erbauung stiftet, heiße und kalte Funken überträgt.“ Das leisten die Spitzen.
140 Gedichte hat man vor sich, eingeteilt in sieben Abschnitte, die jeweils nach einem Gedicht oder Vers benannt sind. Der jüngste Beiträger ist Linus Westheuser (Jahrgang 1989), der älteste (postum) Karl Mickel (Jahrgang 1935). In den „Spitzen“ findet sich die konkrete, visuelle, experimentelle Poesie Simone Kornappels, die noch keine eigene Monografie vorzuweisen hat. Aus Elke Erbs roughbooks-Büchlein gibt es einiges, auch aus Thomas Klings Spätwerk. Durs Grünbein wird nicht verschmäht und etwa mit Birgit Kreipe, Charlotte Warsen oder Georg Leß auch Dichtung präsentiert, die wahrscheinlich noch unterhalb des Radars der nicht allzu versierten, Szene-fernen Lesern schreiben. Notathaftes findet sich neben streng Gesetztem, über die Seite Schwirrendes gibt es genauso wie Prosa-Blöcke, in die quasi lyrisch interveniert wird. Natur, Geschichte, Denkstube, Gesellschaft, Stadt — alles da.
Trotzdem ist es mit den Anthologien, liest man ein bisschen von vorne nach hinten, einfach verzwickt: Viele kommen zu ihrem Recht — wenn man dem Abdruck eine Wirkkraft einräumt — einige nicht. Das versammelte Plenum, wie Popp den ersten Teil seines Vorworts nennt, ist selbstverständlich vielstimmig. Nur welcher der Stimmen das jetzt wie hilft, in dem sie zwischen diesen und jenen anderen steht, von etwas Renommee vielleicht abgesehen, kann auch keiner sagen. Drum sei, brav bedeutungsoffen, der dreimal wiederkehrende Zweizeiler aus Bert Papenfuß‘ „Athen, London, Dublin, Wien, Berlin, Stettin usw.“ hier kurz zitiert:
„Algen an die Galgen, Tiere in die Geschirre,
aber Menschen; Menschen in die convention.“
Kurzum: Ja, hier findet sich ein Haufen sehr guter Gedichte, denen man eine große Leserschaft wünscht. Für erfahrene Lyrik-Leser sind einige der Texte vielleicht schöne Wiederentdeckungen oder doch noch Unbekanntes aus dem einen Band, den man nicht zuhause hat. Wer sich in die deutschsprachige Gegenwartslyrik qua „Spitzen“ einlesen will, findet zahlreiche unterschiedliche, kunstvolle Sprachgebilde, allerdings nicht gerade in hilfreicher Ordnung. Wer unbedarft suchen will, wer sich für Popps Geschmack interessiert, wer gerne Bücher im Regal hat, die man bedenkenlos immer mal wieder aufschlagen kann (vielleicht in 20 Jahren auch als interessantes historisches Dokument): Ab in die Menschen-Convention!
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