Mit luzider Klarheit und minimalistischer Deutlichkeit
„Rezensionen“ nannte der viel zu früh verstorbene Brünner Lyriker Jan Skácel seine poetischen Miniaturen, oft „malé recenze“, also kleine Rezensionen. Dabei verwendete er die Rezension in ihrer ursprünglichen Form als Musterung, als genaue Betrachtung, und Jan Skácel musterte und betrachtete die ganze Welt. Eine seiner Musterungen nannte er „Rezension über die Wahrheit“: „Vladimír Pazourek, der Bücher schreibt, ins Dampfbad geht und Fußball spielt, kam vor kurzem, um mir mitzuteilen, dass heutzutage soviel getrunken wird, dass gar keine Zeit mehr fürs Trinken bleibt.“
Nun, Rudolf Kraus schreibt Wahrheiten, 23 Wahrheiten, wobei er natürlich schon bei der Titulierung an der Wahrheit rüttelt, die ja üblicherweise nur als singuläre Erscheinung auftritt. Wie gesagt, Rudolf Kraus kommt auf 23, dazu schreibt er noch eine paar Halbwahrheiten, und nach den Gesetzen der empirischen Mathematik sind die ja überhaupt mit Halblügen gleichzusetzen.
So, und jetzt möchte ich zurückgreifen auf die griechische Mythologie mit ihren Göttern, die nach Lust und Laune in ihren göttlichen Hadern entweder einander zunicken oder sich gegenseitig die Zungen zeigen. Wie kümmerlich hingegen ein auf einen Einzelgott zugeschliffenes System!
Und jetzt wieder zur Rudolf Kraus und seinen Wahrheiten. Manchesmal erkennen sie sich, sie nicken einander freundlich zu, manchmal schwillt ihnen des Zornes Ader und sie zeigen sich gegenseitig die Zungen. Das muß natürlich herauskommen, wenn man weiß, dass man die Wahrheit nicht gepachtet hat und ihrer 23 Versionen auf den Tisch purzeln lässt.
Die Wahrheiten sind kurz und lakonisch und bestehen aus des Pudels Kern. Im vorliegenden Band gesellen sich zu ihnen die Sprachminiaturen, jene zwischen Epik und Lyrik wogenden Einsprengsel, die ich allerdings eher als gebrochene Epik bezeichnen würde. Anders als die Wahrheiten lassen sich die Miniaturen öfters irgendwo ansiedeln, sie spielen in Meran, in Mutters Garten, im Salettl, in der Hölle. Jede der Sprachminiaturen – ein Genre, welches Rudolf Kraus sehr gerne pflegt -, hat seine Regeln, nein, hat des Autors Regeln:
„wäre diese miniatur / ein gedicht / reim farb leb los / oder doch eine / spielwiese fünfsiebenfünf / stünde sie nicht hier / triebe sich herum / im halbgeistigem / könnte niemals ruhen“
Nun ruhen sie hier, mit luzider Klarheit und minimalistischer Deutlichkeit, oft mit einem Schlusssatz, der den Anfangssatz verhöhnt. Und niemand möge einen Bogen um die Miniaturen machen, weil er sich sonst verlieren würde im Sprachstau des überflüssigen Gebrabbels.
Allerdings lautet der Untertitel des Bandes „Prosa & Sprachminiaturen“, und so sind den Miniaturtexten auch Prosatexte beigefügt. Sie spielen vor allem in der Piestingtaler Heimat des Autors und präsentieren ihn als genauen Beobachter und scharfen Analytiker, als erprobten Lykanthropen der Erinnerung. Freilich passen sie überhaupt nicht zu den Miniaturen, aber zieht man einen Strich unter den bisherigen Werken des Autors, so kann man über dem Strich seine Erzählungen nicht mehr missen.
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