Kolumne

Zeitgenössische Romane aus Georgien (2)

Am Rande der Gesellschaft. Zwei Romane über Abgeschobenwordensein inmitten Georgiens.

Nana Ekvitimischwili betreibt in Tbilissi mit ihrem deutschen Mann Simon Groß einen Eissalon, wenn die beiden nicht in Berlin leben, wo sie einander, an der Filmhochschule Babelsberg, kennengelernt haben.

Zusammen sind sie auch als Filmemacher in Erscheinung getreten, für Die langen hellen Tage”, worin zwei Nachbarinnen im Teenageralter getrennter Wege gehen. Ekvitimischwili stellte in diesem Spielfilm ihre Jugend in schwierigen Zeiten nach, als man in Georgien um Brot Schlange stehen musste und bewaffnete Banden die Wohnviertel kontrollierten. Die Heldin des Films, Natia, bekommt als Liebesbeweis darum auch von ihrem Verehrer eine Waffe ausgehändigt, während die Andere, Eka, sich als Frau eines Wohnblockhalbstarken wiederfindet, bereit, sich den häuslichen Machtverhältnissen anzupassen. Ein sehenswerter Film.

In Ekvitimischwilis neuerer Kinoproduktion Meine glückliche Familie ist die Eigensinnige eine erwachsene Frau. Wie in Georgien üblich, erhält die 52-Jährige das Gefüge der Vier-Generationen-Familie aufrecht, ist für alles und jeden verantwortlich und steht verlässlich zum Babysitten und Wogenkitten, Aushelfen und Einspringen bereit, wann immer jemand sie benötigt. – Bis die verständnisvolle Mutter erwachsener Kinder eines Tages beiläufig verkündet, sie würde in eine kleine Wohnung am Stadtrand ziehen, um nur für sich allein zu sein. Ein ebenso sehenswerter Film.

Nun hat die 40-Jährige Ekvitimischwili ihren ersten Roman veröffentlicht, der in Georgien prompt mehrfach ausgezeichnet wurde. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse hat sie kürzlich Iris Radisch für die „Zeit”-Beilage interviewt.

„Das Birnenfeld”, in der vortrefflichen Übersetzung eines österreichisch-georgischen Duos Julia Dengg und Eka Teti, handelt von der 18-jährigen Lela, die in den 1990erjahren im Waisenhaus hinter einer Plattenbausiedlung der georgischen Hauptstadt aufgewachsen ist. Dort herrschen üble Zustände, doch anders kennt sie es nicht. Lela ist zwar schon zu alt fürs Waisenhaus, doch da sie sich als nützlich für das überforderte Personal, als Vertrauensperson für die vielen „Geschwister” und zum Hüten des Parkplatzes erweist, ja auch den Burschen aus dem Viertel ab und zu als billige Prostituierte zur Verfügung steht, belässt man sie am Internat.

Nicht einmal die Stadt, in der sie leben, kennen die Kinder aus dem „Deppenheim”. Als der von seiner Mutter verlassene Irakli – ein Los, an dem die Protagonistin nicht ganz unbeteiligt ist: – überraschenderweise nach Amerika adoptiert werden soll, zeigen seine gerade für vier Tage angereisten Eltern in spe dem 9-Jährigen zum ersten Mal seine Umgebung. Bei dieser Gelegenheit wird dem Burschen vom guten heimischen Essen schlecht, ist er ja nur Kartoffeln und Zwiebeln gewohnt. Die Erwartung des Traumlandes Amerika wird dem Neunjährigen zuviel, er flüchtet vor dem Glück und zieht das gewohnte elende Leben, mit dem er vertraut ist, dem in einer Familie vor, die es gut mit ihm meint.

Irakli ist nur eines der Waisenhausschicksale, um die es in derm Roman geht. Die Autorin ist selbst neben einer so genannten „Debilenschule” aufgewachsen und mit den Verhältnissen bekannt. Doch statt – wie Manana Tandaschwili in „Löwenzahnwirbelsturm in Orange” – schwierige Fälle nach einander abzurollen, gelingt es der Autorin vom ersten zum letzten Satz am konstruierten Spannungsbogen festzuhalten: Die Hauptperson hat nur ein Ziel. Wie man sich ein anständiges Leben aufbaut, hat Lela keiner gezeigt. Ihr Vorhaben ist vielmehr, sich an jemandem zu rächen, dem Ersten, der sie sexuell missbraucht hat. Sie hat dem Geschichtslehrer Rache geschworen, der mittlerweile ein schwacher alter Mann ist.

Am Ende des Romans ist ihr jemand zuvor gekommen, und zwar der schweigende grünäugige Bursche, dessen Liebe sie nicht sehen will. Die wurde Lela, als sie klein war, vom Lehre Wano verleidet. Sex ist für sie Job, bis auf den Sex mit dem grünäugigen Waska, dem Zigeunerburschen, am „Birnenfeld” hinter dem Internat; der hat sich ergeben, ohne dass Lela ihn mit Gefühlen in Zusammenhang bringen möchte.

Dafür gelingt ihr, einen Kunden vor den Kopf zu stoßen: Als sie zum ersten Mal einen Orgasmus erlebt, möchte sie dem Kerl seinen Geldschein zurückgeben; womit sie ihn in seiner Männlichkeit beleidigt, besser gesagt: im Machtgefühl dass er sich bei der „Debilen” gekauft hat. Nun fühlt sich von ihrer Lust gedemütigt, umso mehr, als seine Freunden erfahren, dass er für Sex gezahlt hat.

Der Roman hält einen bei der Stange, denn spürbar schwebt die Gesellschaft, die gegen die Waisenkinder ist, bedrohlich über den Geschichten der aus ihr verstoßenen Kinder. Sie haben weder Recht noch Mitleid auf ihrer Seite, sind abhängig von der Mutwilligkeit Anderer. Selbst das Glück, das ab und zu in Person netter Menschen überraschend über die Schicksalsgemeinschaft hereinbricht, wirkt wie Fopperei; als ob es gleich wieder aus wäre.

Doch für Lela zeichnet sich überraschenderweise ein gutes Ende ab, sofern man die Zeichen besser als die Protagonistin zu lesen vermag – wie Irakli, der Amerika-Verweigerer: Er hat an Lelas Verehrer Waska die Liebe und eine für den Ausbruch gepackte Tasche wahrgenommen. Es gibt jemanden, der sich in ein Leben nach dem Waisenhaus aufmacht und eine Hand hat, die zu Lela hingestreckt bleibt.

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Einen außergewöhnlichen Plot hat der andere bemerkenswerte georgische Roman, der anlässlich der Frankfurter Buchmesse auf Deutsch das Licht der Leserwelt erblickt hat: In „Einsame Schwestern” von Ekaterine Togonidze (übersetzt von Nino Osepashvili & Eva Profousová ), einem im Herkunftsland ausgezeichneten Buch, geht es um siamesische Zwillinge, die als Doppel-Kaspar-Hauserinnen bei ihrer Großmutter, einer pensionierten Lehrerin, aufgewachsen sind. Ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben. Die Großmutter versteckt Diana und Lina vor der Kenntnisnahme durch die Gesellschaft und den Ärzten, die sie als medizinisches Wunder untersuchen würden. Der Kindervater hat sich von der Mutter getrennt, sobald sie ihm die Schwangerschaft berichtet hat. Seine Akademikerfamilie wäre gegen eine Verbindung mit Elene, der Vaterlosen, gewesen.

Siamesische Zwillinge, die einen funktionierenden Körper mit einigen doppelten Organen und zwei unabhängigen Köpfen haben, sind sehr selten. Wohl wurden 2015 in der georgischen Hauptstadt siamesische Schwestern geboren und im ersten Lebensjahr an einer Klinik in Köln erfolgreich getrennt; auf der Buchpräsentation in Wien erzählte die Autorin, sie hätte eher das Schicksal eines amerikanischen Zwillingspaars vor Augen gehabt, vermutlich die 1990 geborenen Hensel-Zwillinge Abby und Brittany, die einen Körper, aber zwei unabhängige Köpfe und Nervensysteme besitzen. Synchron koordinieren sie ihre Bewegungen. Ihr ganzes Leben wurden die beiden medial begleitet, wie sie krabbeln, Rad fahren, Auto fahren lernen und beide einen College-Abschluss machen. Heute unterrichten die zusammengewachsenen und charakterlich verschiedenen jungen Frauen Mathematik.

Wieder geht es in einem erzählerischen Werk um den Umgang der georgischen Gesellschaft mit Randexistenzen, vielmehr aber um die Tendenz des Wegschauens, wenn Ungewöhnliches, Ungewolltes, Ungehöriges ins so genannte normale Leben tritt.

Die empfindsamen Schwestern, die ihre Teenagerherzen unabhängig von einander in Tagebücher ausschütten, geben nach Art der Anne Frank Auskunft über innere Befindlichkeiten, sind doch Beobachtungen der Außenwelt durch das Eingesperrtsein verhindert. Lina ist das Hirn der linken Körperseite, die Herzbetonte, Gefühlvollere; Diana die stärkere Anführerin.

Neben dem Alltag der Mädchen, aus ihren Tagebüchern, erlebt der Lesende die Realität ihres nichts ahnenden Vaters mit. Der unverheiratete Rostom, Hochschullehrer, erhält einen Brief vom Leichenschauhaus, er möge für die Aufbewahrung seiner verstorbenen Kinder bezahlen. Von Kindern weiß er nichts. Rostom hält den Schrieb für einen Irrtum und bei wiederholter Post für einen üblen Scherz. Obwohl ihm das Getuschel hinter seinem Rücken nicht entgeht, hat er sich bislang nie gefragt, was wohl aus der jungen Frau, die er in Erwartung eines Babys vor 17 Jahren verlassen hat, geworden ist. Rundum wird allerlei gemunkelt, Rostom hat stets weggehört. Auf Georgisch heißt schwanger: „doppel-seelig”. Und aus der „Zwei-Seele” der Mutter sind bei deren Tod synchron bewegliche zwei Wesen geworden, von denen Rostom nie etwas wissen wollte.

Dieser Erzählstrang bewegt sich vom Schluss der Geschichte – nach dem Tod der Zwillinge während der heftigen Überschwemmung – vorwärts und erweist am Ende Rostoms Handeln, als er vor Geburt der Kinder ihre Mutter zugunsten seiner eigenen Mutter im Stich gelassen hat, als Teufelstat.

Damit ist der Autorin ein zynisches Bild vom Vaterschaft-Nichtbekennen gelungen, worin sie den georgischen Mann, der sich als Herkules fühlt, entlarvt: Gegen Schluss des Romans lässt sie Rostom einer Studentin erklären, dass der Held schlechthin sich besonders durch das Ausmisten der Ställe des Augias hervorgetan hätte, indem er einen Fluss durch die Stätte des Anstoßes leitete. In seinem Fall war es die Flut von 2015, die seine Töchter wie Zirkustiere davongespült hat.

Die Mädchen, deren Schicksal der Leser zeitversetzt erfährt, versuchen sich einen Reim auf die Welt zu machen, von der die Großmutter sie fernhält. Die beiden lesen und fernsehen. Ihre klugen Vorstellungen von der Realität sind jenen nicht unähnlich, die  auch die über Jahre eingesperrte Österreicherin Natascha Kampusch aus Büchern und Fernsehen gewinnen konnte.

Als die strenge Großmutter stirbt und sich ihr Laufbursche Zaza nicht mehr zeigt, müssen die 17-Jährigen es mit der Welt aufnehmen. Wie befürchtet, werden sie als Anomalien erst von der Ärzteschaft, später vom Zirkusdirektor ausgenutzt. Bevor sie als monströse Prostituierte enden, bringt sich die eine aus Liebeskummer um, worauf die andere – in einem Körper aneinander gefesselt – mit untergeht.

Letztlich entpuppt sich das Kettchen mit dem Yin-und-Yang-Zeichen, das Rostom seiner Freundin zu schenken zu feige war, als Verhängnis: Wie in einer antiken Tragödie hat sich die Vorbestimmung bewahrheitet. Diana und Lina, als Synchronschwimmende Ying und Yang, sind in der Sintflut untergegangen, die aus Schuld des Vaters verhängt wurde. Eine Generation später ist wieder eine Studentin von ihm schwanger. Das „Teufelsrad” im Sumpf der Stadt dreht sich auch nach dem Hochwasser weiter.

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Nana Ekvtimishvili
Das Birnenfeld
Aus dem Georgischen von Ekaterine Teti und Julia Dengg
978-3-518-46882-1 | 16.95 Euro
Suhrkamp Berlin 2018

Ekaterine Togonidze
Einsame Schwestern
Aus dem Georgischen von Nino Osepashvili & Eva Profousová
978-3-902711-74-8 | 20 Euro
Septime Wien 2018

 

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