Die unglaubliche Leichtigkeit des Seins
Scott Carey ist 42, gerade hat ihn seine Frau verlassen, seine Zeit widmet er seinem Kater Bill und der großen Kaufhauskette, deren neue Website er gestaltet – als plötzlich etwas Merkwürdiges mit ihm geschieht. Er wird leichter. Jeden Tag zeigt die Waage weniger an. Dabei isst er wie ein Holzfäller, und auch seine stattliche Wampe wird nicht kleiner. Stattdessen scheint er auch seiner Umwelt Leichtigkeit zu bringen: Egal ob er nackt oder voll bekleidet und mit Hanteln in den Taschen auf die Waage steigt: sie zeigt stets dasselbe Gewicht an. Sein alter Freund Doc Ellis ist fasziniert. Sein Tennis-Kumpel ist eine medizinische Sensation. Doch der sperrt sich gegen Untersuchungen. Scott hat wenig Lust, als moderner Zirkusfreak auf dem Cover der Vanity Fair zu landen. Stattdessen streitet er sich lieber mit seinen Nachbarinnen, deren Hunde tagtäglich ihr Geschäft auf seinem geliebten Rasen verrichten.
Nun könnte man sagen, dass diese Eröffnung schon sehr nach Stephen King klingt – und sich fragen, welch gruselige Wendung all das bald nimmt. Doch das tut es nicht, im Gegenteil. Auch wenn das Setting, die kleine Stadt Castle Rock, in der einst Cujo ein Blutbad anrichtete und später der Teufel persönlich vorbeischaute, anderes erahnen lässt. Während Scott leichter und leichter wird, sich beschwingter und fitter fühlt, lernt er Deirdre und Missy besser kennen. Ihr Restaurant läuft schlecht. Ein lesbisches Ehepaar kommt nicht gut an in einem Kaff, in dem zwei Drittel der Wähler ihr Kreuz bei Trump gemacht haben. Dass Deirdre für den alljährlichen Thanksgiving-Marathon wirbt bringt ihr zusätzliche Ablehnung ein. Und Scott fühlt sich inmitten dieses republikanischen Sumpfs aus Vorurteilen und Kleingeistigkeit hinter weißen Gartenzäunen zunehmend unwohl. Er ahnt düster, was mit seinem Ansehen geschähe, würden die Leute von seiner seltsamen Krankheit erfahren...
Und nicht nur diese Vorstellung macht ihm Angst. Sondern auch die Frage: Was geschieht am Tag Null, der immer näher rückt? Wird er einfach davonschweben, wenn er gar nichts mehr wiegt? Wird er sterben? Er weiß, es gibt neben dem Doc nur zwei Menschen, die er einweihen kann...
Mit dem schmalen Roman „Erhebung“ ist Stephen King nichts weniger gelungen als ein modernes Märchen. Eine Geschichte über Freundschaft und die Überwindung von Vorurteilen, über den Blick, der nicht am eigenen Gartenzaun enden darf, wenn man nicht in einer Gesellschaft enden will, die von Hass und Missgunst zerfressen ist. So wie er in den Siebzigern und Achtzigern die bedrückende Atmosphäre des Kalten Krieges in grausigen Horrorvisionen verarbeitete, so demontiert er heute jenes Amerika, das auf einen wie Trump regelrecht gewartet hat, um seine schlechteste Seite hervorzukehren. Und er findet dafür eine Sprache der Menschlichkeit, eine Sprache der Überwindung der Gräben. Dass er dafür aus der rechten Ecke täglich angefeindet wird, kann ihm herzlich egal sein. Die Wut, die ihm entgegenschlägt, bestätigt lediglich seine Worte. Jedes einzelne.
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