Tierische Pflanzenweisheiten
»Eigenwillig« ist wohl diejenige Bezeichnung, die man am meisten hört, wenn über die Poesie Sebastian Ungers gesprochen wird, die nun – endlich muss man sagen – in einem schön gestalteten Band bei Matthes & Seitz erschienen ist unter dem Titel Die Tiere wissen noch nicht Bescheid. Nicht zuletzt noch einmal in den Fokus gerückt wurden einzelne Texte auch in der Spitzen-Anthologie, herausgegeben von Steffen Popp, wo ein Gedichttitel sogar demjenigen letzten Kapitel seinen Namen lieh, das einen Ausblick auf kommende Schreibweisen und Verfahren geben soll: „Das pflanzliche Lamm“. Woher rührt dieser Impuls, den auch ich verspürt habe beim Lesen, Ungers Schreiben als eigenwillig, seinen Ton als eigenständig zu bezeichnen?
Zunächst ist „Borametz – das unheilbar pflanzliche Lamm“ (9) nicht das einzige merkwürdige Lebewesen, das uns im Band entgegen kommt; die Legende des skytischen Baumlamms aufgreifend, das an einen biegsamen Stamm gewachsen hin und her bis zum Boden pendelt, um in einer Kreisform das um sich wachsende Gras abzufressen und verhungern muss, wenn alles Gras weg ist. Und es ist auch nicht das einzige merkwürdige Lebewesen, in dessen Beschreibung die als natürlich konstruierte Stufenleiter der Lebewesen nach Ernst Haeckel oder Scheler, Plessner etc., die drei starken paradigmatischen Grenzen des Speziesismus von unbelebt-belebt, pflanzlich-tierisch, tierisch-menschlich aufgehoben erscheinen: es gibt einen dreibeinigen Esel; einen zweirümpfigen Hund, der zur Mäßigkeit mahnt; eine übergeschnappte Petersilie; einen Hund, der sich vom Stuhl entlehnt und gerätschaftlich blickt; einen gummischabenden und soufflierenden Kahn; einen Käfer, der den Tod als Riesenplaneten in seinen Bann nimmt, sowie das Anzementierte einer Katze. Und eigentlich könnte die Rezension damit schon enden, da mit dieser Aufzählung bereits das ganze weltaufschlüsselnde und andersweltweisende Potential dieser Dichtung benannt ist.
Die Überschrift eines Zyklus im Kapitel Zerreißproben aus Holz kann vielleicht poetologisch für den gesamten Band gelesen werden: „Gegenseitige Verschlingung / unbelebter, auch teilbelebter Vorgänge“. Beinah wie in den Vorstellungen der Gaia Theory von James Lovelock werden Wesensgrenzen überschritten, die Ein- und Unterteilungen von natürlichen Gattungen und Klassen unberücksichtigt gelassen und alles Existierende als ein miteinander atmender und in Interaktion stehender Lebenskosmos verstanden. Die Pflanzen, Steine, Tiere wirken als die eigentlichen Protagonisten eines Umweltgeschehens: „Dass die Kiefer ohne Auflastung / auf dem Fuß des Betrachters steht […]“ (17). Sämtliche im Zeitalter der Empfindsamkeit und Klassik entwickelten Hierarchiekonzepte von Mensch und Natur sind in dieser Zeile verkehrt, kein Erholsamkeitsdiskurs des Alpinismus, kein Erfahrungs- und Stimmungsraum, keine Sublimität, keine panoramatische Übersicht und auch keine eskapistische und utopische Gegenwelt: sondern das, was immer schon vor der Menschheit da war und nach ihr bleiben wird. Diese Natur ist referenzlos, sich selbst ein ineinander verwobenes Zeichen, das sich durch Metamorphosen ineinander überblenden kann. So hat eine Kiefer auf einmal ein „Tierwappen“ und eine „nachgezogene[...] Flosse“; Fisch und Baum gehen ineinander über wie beim pflanzlichen Lamm und es ergibt sich daraus ein „Einschlagsecho von Ast und Stamm / bei ruhiger See und ruhigen Händen“ (17). Dieses Motiv der Tierpflanzenvermischung kehrt über den gesamten Band hinweg wieder: „waren Vogel und Ast unzertrennlich miteinander verbunden“ (44).
Auch das Menschliche ist in diese für Übergänge offene Poesie immer miteinbezogen, aber eben als gleichberechtigter Teil der Sinngebung:
„Diese Einmischung in das Gespräch von Steinen“ (21); „ein Gewicht, das ausreicht / ihn vom Zustieg abzuhalten, bevor es die Tiere holen // ihn als einen der ihren erkennen“ (22)
Die Natur hat einen menschlich analogen Körper, da sie zunächst in dessen sprachlichen Ausdruck, dessen Benennungsvorgänge einbezogen bleibt. Die Perspektive ist dabei aber keine Anthropo- sondern eine Physiozentrische: der menschliche Körper und seine mit, in und aus ihm erzeugte Sprache ist Teil des großen Ganzkörpers aus Spezies und Dingen:
„Der Wald ist der Bauch / den der Park beim Einatmen einzieht“ (15); „[...] Die Vögel, die in den Ohren wohnen / gehen aus“ (15); „drüber kurzes Knacken: das Junigenick / in der Nähe des Zauns“ (18); „sich zu glätten, über den Muskeln ein Stocken / das der Wind korrigiert“ (39); „Entsteht erst Schale / das Widrige (ist der Gegenstand ein Echo) / ein Wortbrechen, das erst einmal heranwachsen muss“ (61)
Diese körperliche Natur, als Körper Handelnde und sich Mitteilende, ist dann dergestalt doch wieder eine zeichenhafte Natur, als das Bezeichnen als besonderer und allem vorgängiger Ausdruck des Körpers sich durch den gesamten Band bildert, besonders aber in den Kapiteln, wenig überraschend, Zeichenlehre und Lebendeinschlüsse (das mit dem in jedem Sinne programmatischen Gedichttitel „Satzbau, Wohnform“ beginnt).
„Die Verschorfung des Begriffs / zur körpereigenen Stelle, im Nu verheilt /der Krust auf deinen Lippen, wenn du weinst“ (30)
„die Skier treiben schon von widerspenstiger Natur / ihren Zweizeiler vor sich her, Sprecheifer / aber steigerbar / als anhaltende Aufzeichnung: die Kerbe im Eis / wo das selbstfortgeführte Gespräch von Gegenständen / mit einem Komma endet“ (28)
„das Reh, eine sehr frühe Akklamation / vor Sonnenaufgang steht es, ohne ein Ende zu finden / mitten im Satz“ (29)
Der Natur äußert sich in dieser Poetologie nicht als Referenzobjekt in einem Verweisraum, sondern als Zeichenpotential innerhalb des Sprachraums selbst. Sprache fungiert dabei als spielerisch oszillierendes Element zwischen Lebendigem und Unlebendigem, das die Spezies- und Kategoriengrenzen aufzuheben weiß, und daher als Umschlagstelle alles körperlichen Lebens:
„Dieser organische Rückhalt in allen sich vorwagenden Sätzen / Geweih und Verderb, der Satzmuskel“ (21); „das Zitatende an beiden Beinen, kilometerlang / laufen wie ins Feld bestellt“ (52); „mein gut durchblutetes Schweigen, gelöst mich / als Kiesel im Mund, als immerwährende Losung“ (60); „liegt das so beim Wort genommene Körperende / auf der Hand“ (64)
Sogar Gedanken und Licht handeln in diesen Gedichten, auch sie nicht in ausgezeichneter Weise als Mittel einer hierarchisierten Wahrnehmung, als Qualität, die die Gegenstände zur Erscheinung bringt, sondern als homogener Teil der kosmischen Einheit:
„Der Gedanke tritt nun auf, trifft auf den Fuß / des Nachbarn / denn mehr kann es nicht sein, das Licht / sieht ja nichts / wenn es sich auf die Landschaft überträgt /verdoppelt / was eigentlich beschrieben ist / wenn es sich auf die Landschaft überträgt“ (34)
Auch das Nicht-sprechen-Können, das Stocken, Stottern und Schweigen ist ein zentrales Thema des Bandes, „die Wortfindungsstörung, die sich zwischen den Booten / und der Kaimauer den Kopf zerbricht“ (77). Und hier aber auch mein einziger Kritikpunkt: die sprachliche Formung ist mir an manchen, freilich seltenen Stellen dann doch zu einfach, die Wortfelder und Verknüpfungsmethoden machen es sich streckenweise zu bequem; es werden in der Metaphorik dann klassisch zwei Bildbereiche verschaltet oder überblendet, sogar in über Bildstrecken durchgehaltene Analogien überführt, manchmal kalauernd: „Am Fuß der Kiefer, das abnadelnde Nervenkostüm“ (50). Da gehe ich dann mit dem intendierten Well-Made, das mir als Leser entgegengockelt, nicht mehr mit. Allerdings wiegen das ein großartiges Gefühl für Struktur sowie Rhythmus wieder ausreichend auf. Auch das Lektorat hätte sorgfältiger sein können, es finden sich Schreibfehler wie „ungrammtisch“ (66) oder „Höchtsgeschwindigkeit“ (62). Im gleichen Gedicht wie Letzterer aber macht sich unverhofft die Produktivität der Verschreibung bemerkbar: „ein auf Tennisballgröße zurückverstüplter Sprechakt“ (62), was mir fast besser gefällt als das wahrscheinlich intendierte „zurückverstülpter“, da im Verstüppeln, auch gleich das Verstümmeln noch mitschwingt.
Nichtsdestotrotz: der Band greift nach der Exposition der eigenen Ästhetik zur Mitte hin auch ins historisch-literarische Feld aus, weshalb seine ganze Anlage auch klug und gut durchdacht ist. Historische und literarische Interdependenzen werden mit dem entwickelten Instrument befragt und neu gedacht und dabei entstehen sehr, sehr beeindruckende Gedichte. Johann Friedrich Oberlin, elsässischer Gründervater der kindergartlichen Pädagogik tritt sowohl in einem eigenen Zyklus von kurzen Bewegungs-, Turn- und Sportgedichten auf, als auch gebrochen über Büchners Lenz, der in einem langen Zyklus als Gewährsmann der wandernden Auflösung und sprachlichen Zerrüttung aufgerufen wird. Dabei wird in dieser großartigen, für mich stärksten, Textgruppe eine sinnanreichernde und aus diesem Grund auch sinnvolle Intertextualität gefunden, die die Ausgangserzählung in »imitatio« der Motivik, aber »variatio« der formenden Richtung in die eigene Poetik holt:
„Das jeweils viel zu späte Eintreffen, körperlicherseits / wenn er längst schon weiter wollte / als rächte es sich / die Anbindung der Gedanken an noch fernere Dinge“ (44); „Zusehn müssen, wie Dinge tauschen / untereinander, was eigentlich ihm gehört / die Seeoberfläche / die sich beim plötzlichen Aufblitzen der Idee eines großen Lebens im Fisch verflüchtigt“ (45); „Unrast nicht Eile im Sinne von ausgerasteter Baum“ (46).
In Sebastian Ungers Debütband lässt sich ein Haufen gewichtiger Dichtung finden und d. h. diskursiv dicht, aus diesem Grund schwerwiegend, und leicht durch die Anders- und deshalb Mehrwelt der Bezeichnungen tänzelnd zugleich. Also, den „Neugierspachtel“ (57) ansetzen (was für ein tolles Wort!) und schauen, was im Umgang mit diesen Gedichten passieren kann: „Wie sie aufgeht die Form / der geschwollenen Brust […]“ (72).
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