»Es gibt keine Nazis in der Stadt«
Innerhalb von zehn Jahren veröffentlicht Ursula Krechel drei große Romane. 2008 erschien Shanghai fern von wo, 2012 das mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Landgericht und nun also mit Geisterbahn der letzte Band dieser Trilogie. In allen drei Büchern widmet sich die Autorin mit unterschiedlichen Schwerpunkten den Menschen, die in Deutschland verfolgt, dem Terror ausgeliefert und ermordet wurden. Um es vorweg zu nehmen: Obwohl das, was in Geisterbahn erzählt wird, größtenteils berührend und sehr, sehr traurig ist, konnte ich das Buch nicht weglegen. Vielleicht auch, weil die Sprache der Lyrikerin Ursula Krechel trotz der Ungeheuerlichkeiten, von denen sie erzählt, immer treffend, manchmal sogar lyrisch in parataktischen Sätzen daherkommt, stets das hilflose Getriebenwerden der Menschen unterstreicht und mich dadurch in den Strom der Zeit und der Sprache hineinzog.
Und da sind die Dorns, noch sind sie da, noch geht es gut, noch geht es einigermaßen, noch halten sie sich, aber wie lange?
Als dieser Satz in dem Roman auftaucht, befinden wir uns kurz vor der sogenannten Machtergreifung und das wichtigste Wort der Aussage ist noch, denn er nimmt auf Seite 134 vorweg, was sich auf weiteren fünfhundert Seiten entwickeln wird.
Doch der Reihe nach, obwohl es schwierig ist, bei den vielen Protagonisten und Nebenfiguren der umfassenden Darstellung der Menschen und ihrer Geschichte – genauer ihrer Schicksale – gerecht zu werden.
Da ist also die Familie Dorn. Als Sinti verdienen sich Vater Alfons und Mutter Lucie ihren Lebensunterhalt auf Jahrmärkten, nicht nur in Trier, der Geburtsstadt der Autorin, wo der Roman spielt. Sie sind eine große Familie, es gibt insgesamt neun Kinder, von denen fünf Auschwitz nicht überleben werden. Die Verfolgung beginnt damit, dass die älteren Kinder zuerst Kathie und später Josef zwangssterilisiert werden, die Familie alles verliert und schließlich sie bis auf Josef (der in einem anderen KZ ist) in Auschwitz landet. Wie gesagt, ist dies nicht leicht zu lesen. Denn Ursula Krechel ist eine genaue Chronistin, die dem Leser und der Leserin nichts erspart. Dies betrifft besonders die Textstellen, in denen sie »Leben« und Tod der kleinen Kinder in Auschwitz, einschließlich der Versuche von Mengele, beschreibt. Eines der Kinder, Vera Dorn erfindet für die jüngeren Geschwisterchen ein »Spiel«.
Wißt ihr, sagte Vera zu den kleineren Kindern, sie scharte sie um sich, wir spielen. Es ist wie in dem Lied … Zehn kleine Zigeunerlein saßen hungrig in der Scheun, eines ist an Hunger gestorben, da waren es nur noch neun. Neun kleine Zigeunerlein schliefen in der Nacht, eines ist nicht mehr aufgewacht, da waren es nur noch acht … Und dann sang sie von sechs Kindern, bei jeder Strophe hatte sie ein Steinchen fallen gelassen, Steinchen nach Steinchen, und die kleinen Kinder verstanden ohne ein weiteres Wort: Jetzt waren sie noch viele, und jeden Tag würden es weniger Kinder sein.
Lucie, Alfons, Kathie und Josef überleben die KZs, und dass Lucie in Auschwitz sogar den Jungen Ignaz geboren hat, und er mit Hilfe anderer Leidesgenossen versteckt und ernährt wurde, ist einer der wenigen Hoffnungsschimmer in der Geschichte.
Denn auch nach dem Krieg werden die überlebenden Dorns in Trier nicht mit offenen Armen empfangen. Schon wieder gibt es Verordnungen gegen Zigeuner, die Dorns sind Bittsteller, kämpfen meist vergeblich um jede kleine Entschädigung. Als sie – wie in Trier üblich – als Opfer des Faschismus fürs Erste hundert Mark und zehn Flaschen Wein bekommen, sind Alfons und Lucie fassungslos:
Fürs Erste, fürs Erste. Ich habe fünf Kinder verloren, fürs Erste.
Lucie bekommt noch Annchen, die Nachzüglerin, verschmerzt aber nie den Verlust ihrer fünf toten Kinder, sieht sie immer wieder vor sich, wird immer verwirrter und nimmt nicht mehr am Alltag teil. Bis sie wegen eines Tumors erblindet und stirbt. Auch Kathie leidet ihr Leben lang an der Tatsache, dass sie nie ein Kind haben wird.
Neben der Familie Dorn erzählt Ursula Krechel auch ausführlich über die Geschwister Willi und Aurelia Torgau, die als KPD-Mitglieder und überzeugte Kommunisten im Untergrund arbeiten, Flugblätter verteilen, denunziert werden und ebenfalls in Auschwitz bzw. Buchenwald landen. Willi versucht nach dem Krieg in der Spruchkammer für Gerechtigkeit zu sorgen und muss ähnliche Erfahrungen wie der jüdische Jurist Richard Kornitzer in dem Roman Landgericht machen: alle Angeklagten waren »unschuldig«, haben nur auf Befehl gehandelt und es gibt eigentlich kaum Täter. Seine Schwester Aurelia kommt schwerkrank aus dem KZ zurück, ist körperlich und geistig völlig zerstört.
Neben diesen beiden Familien gibt es mehrere Personen, die sich zur »Volksgemeinschaft« zählen, vom Nationalsozialismus profitieren, ihn unterstützen oder sich sogar an seinen Verbrechen beteiligen.
Da wären Dr. Franz Neumeister, der typische Mitläufer, dem es meisterhaft gelingt, sowohl unter den Nazis als auch später in der Bundesrepublik sein Schäflein ins Trockene zu bringen. Er ist eine besonders unsympathische Figur, spielt er doch nach außen den moralischen Biedermann, was ihn nicht daran hindert, seine eigene Tochter zu begrabschen. Eine andere Figur, Grit Berghausen, scheint irgendwie durch die Zeit zu schweben. Nach dem Krieg wird sie von einem französischen Besatzungssoldaten schwanger, zieht ihre Tochter Iris allein groß, wird wieder schwanger, treibt ab, bekommt einen Prozess, aber letztlich fällt sie immer wieder auf die Füße.
Und da ist noch Eberhard Blank, ein Polizist, der wohl stellvertretend für Macht der übergroßen Täter steht, die an den Naziverbrechen beteiligt waren. Wie wäre es sonst erklärbar, weshalb sein Sohn Bernhard für ihn durchgehend Großbuchstaben benutzt: MEINVATER!
Bernhard ist es auch, der als Lehrer rückblickend die ganze Handlung erzählt und erst im letzten Drittel des Romans an Kontur gewinnt, während sein wir zu Beginn etwas verwirrend ist. Als Junge sitzt er nach dem Krieg mit all den Kindern der Opfer und Täter in einer Grundschulklasse und seine nicht immer chronologische Erinnerung an die Klassenkameraden ist verbunden mit den Geschichten ihrer Familien, wobei der Erzähler allwissend zu sein scheint. Abwechselnd erfahren wir von den Kindern Annchen Dorn, der nach ihrer Tante benannte Aurelia Torgau, Cecilia Neumeister und Iris Berghausen. Anhand der Umgebung und der Entwicklung dieser Kinder erzählt Ursula Krechel von der aufstrebenden Bundesrepublik, in der die alten Geister allerdings nicht vertrieben worden sind. Denn der unsensible Lehrer lässt die Kinder das Lied von Nikolaus Lenau von den drei Zigeunern singen, woraufhin Annchen in Tränen ausbricht und sagt: Mir sinn net solche Zigeuner wie die. Und als sie als Erwachsene mit ihrem Bruder Ignaz ein anfangs sehr erfolgreiches Restaurant eröffnet, schreiben Neonazis SS-Runen und Haut endlich ab an die Wand, legen Kot vor die Tür und zerstören es schließlich ganz. Es gibt keine Nazis in der Stadt, verkündet die Polizei als Ergebnis ihrer Untersuchungen.
Geisterbahn ist ein wichtiges Buch. Schonungslos legt es den Finger in die Wunde, die gerade heute wieder sichtbar wird.
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