Nie zu Ende gehäutet
Grille und Ameise gleich auf den ersten Seiten - ist hier ein Verweis auf Fabeldichter Jean de La Fontaine enthalten? Neugierig lese ich weiter:
grille // ein stück melone / meine liebste / am galgen // den magen heben // dann im morgenrot / singt die asche / chanson grillée
Dieses namensgebende Gedicht steht übrigens dem Band sozusagen als Motto voran. Von der leichtfertigen Grille ist nur noch die singende Asche und eine Verballhornung geblieben. Also keine, oder nur sehr entfernte Paraphrasen auf moralisierende Fabeln, wie auch Gedicht 1 zeigt:
ameise // dort / um die ecke / wo die tyrannen / übergehen // in nackte ameisen // tarnt / mittendurch / ein riss // gepanzert / geflügelt / von einem ohr / zum andern
Dennoch, im Tierbild steckt das Menschenbild. Wo wir nichts mehr erkennen, erkennen wir uns selbst. Der Dichter skelettiert das Animalische, bis der Leser erschrocken das Buch zuschlägt. Oder verstört auflacht. Der Humor lauert, wie immer bei Karner, im Verborgenen, schlägt hinterrücks zu und ist schon wieder weg.
elefant // traum / elefant / lass ihn fliegen / sagt die bedienung // nimmt / den abfall / der schlachter / für den der fette / von oben / geld zusteckt.
Die „geschundene Kreatur“, ein Ausdruck, der von Berufenen und Unberufenen meistens nur auf das vom Menschen vergewaltigte Tier bezogen wird, schließt in diesen Texten Opfer und Schlächter mit ein. Ob den Sündenböcken und ihren Vertreibern, rachsüchtigen Makrelen und „bürgerschweinen“, in Karners Bestiarium geht es allen an den Kragen. Übrigens hält seine poetische Welt auch für Poeten keine Rosen bereit:
jaguar // mag / der kleine wortspieler / wüten // enthauptet / die katze / mit kurzem zischen / diesen gerissenen / bastard
Axel Karner, 1955, in Zlan, Kärnten geboren, lebt in Wien und unterrichtet evangelische Religion, darstellendes Spiel und soziales Lernen. Woher stammen wohl die meisten Exemplare seines fallenreichen Tiergartens? Aus der Religionsgeschichte, dem Schulalltag oder seiner Oberkärntner Heimat?
Was Karners Gedichte jenseits der schrägen Bilderwelt so unverwechselbar macht, ist die bei seiner sprachlichen Knappheit erstaunliche Vielzahl möglicher Deutungsebenen. Der Leser selbst hat das Objekt nie zu Ende gehäutet. Ganz Preis gibt es sich nie.
Besondere Erwähnung verdienen die Illustrationen von Anne Seifert, bei denen das inflationäre Prädikat „kongenial“ ausnahmsweise zu recht verliehen werden kann. Witz und Reduktion der Graphiken ergänzen die 28 Gedichte des Autors auf anregendste Weise.
Fixpoetry 2011
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben