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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Gegen das lukrative Krachen

Hamburg

all die erkenntnis
die sich findet in einem wort
wie apfel

Und wieder gibt es eine poetische Stimme aus Island zu entdecken, jene der Dichterin Linda Vilhjálmsdóttir. Wobei „entdecken“ relativ ist, man hätte von ihr bereits Kenntnis nehmen können. Denn einzelne ihrer Gedichte sind in deutschsprachigen Anthologien zu finden und zwei ihrer Gedichtbände im Verlag Kleinheinrich erschienen, u.a. „Frostschmetterlinge“. Das gleichnamige Gedicht findet man auch im Sammelband „Isländische Lyrik“ (Insel Verlag Berlin 2011, Übersetzung: Tina Flecken), in dem es u.a. heißt:

du bist aufgebrochen
...
zerzaust und zerfleddert wie ein Zugvogel
der die Orientierung verloren hat
...
und wir sind beide zu sehr in Eile
um den Sommergesang der Vögel zu hören

Das Hetzen und Gehetztwerden sowie der Verlust der Achtsamkeit im Umgang mit Mensch und Umwelt werden bereits hier thematisiert und von der Lyrikerin, ich greife vor, auch im vorliegenden Buch „freiheit“ zur Sprache gebracht.

Die 1958 in Reykjavík geborene Schriftstellerin publizierte seit 1982 in Literaturzeitschriften. 1990 legte sie mit Bláϸráður/Blaufaden ihren ersten Gedichtband vor. Seither hat sie fünf weitere Gedichtbände, Theaterstücke und einen autobiografischen Roman veröffentlicht und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Für ihre letzte, 2015 erschienene Lyrikpublikation frelsi wurde sie gleich mehrfach gewürdigt, u.a. 2015 mit dem Preis des isländischen Buchhandels für den besten Gedichtband, und 2018 in Danzig als „Europäischer Dichter der Freiheit“ geehrt.

„frelsi / freiheit“ ist, nach Ragnar Helgi Ólafssons „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“, das zweite von den Übersetzern Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer im Elif Verlag vorgelegte Buch. Es ist erfreulich, dass ihre Wahl diesmal auf eine Lyrikerin fiel, denn – wie öd, dass man es immer noch ansprechen muss – Künstlerinnen werden nach wie vor konsequent weniger beachtet als ihre Kollegen, siehe etwa www.lyrikline.com im Jänner 2019: Zwei isländische Lyriker sind vertreten, aber keine einzige Lyrikerin des Landes!

„frelsi / freiheit“ liegt als zweisprachige Ausgabe vor, links die Originale, recht die deutschen Übertragungen. Die konsequent kleingeschriebenen Gedichte ohne Interpunktion und ohne Titel sind in vier Kapitel gruppiert. Man kann die Texte als vier Langgedichte lesen, man kann diese Sammlung auch als ein einziges Gedicht verstehen, das sich Gedanken zur Freiheit und ihrem Missbrauch zuwendet. Oder man mag die Zeilen jeder Seite als eigenes Gedicht begreifen, was ebenfalls stimmig ist.

Hintergrund des Buchs ist die Finanzkrise der Jahre 2008-2011, die Island an den Rand des Kollapses brachte. Doch die Gedichte gehen weit über isländische Belange hinaus, grätschen mitten hinein in globale Verwerfungen, kritisch mit meist lapidarem Ton, doch partiell messerscharf in der Analyse, und sind durchsetzt mit kaum verhülltem Furor, der sich manchmal im Sarkasmus entlädt. Zuweilen bricht eine religiöse Grundierung durch, wenn biblische (Halb)Zitate in die Gedichte einfließen und biblische Geschichten angetupft werden. Vilhjálmsdóttir ruft Freiheitsverheißungen der drei monotheistischen Religionen wach, geht diesem Erbe und seiner Einlösung in der Gegenwart nach und konfrontiert mit dem  Freiheitsverständnis von Kapitalismus und Materialismus. Sie fragt nach den Grenzen der Freiheit, die oft freiwillige Begrenzungen sind, weil wir unsere Möglichkeiten nicht nützen.

zwischen
himmel und erde
ist alles

wie es geschrieben steht

So beginnt der unbetitelte erste Teil, ein Präludium, das unseren Umgang mit Freiheiten anspricht. Es sind Gedichte mit wenigen Versen, die unser Vervielfachen von Hass und Gier, von Festungen und Göttern konstatieren, auf der Frage nach dem „Wozu?“ bestehen und Antworten suchen. Erstaunlich, zugleich irritierend, das heute nicht nur in Gedichten selten verwendete Wort „güte“ zu lesen, auf deren Vervielfachung wir, so das Gedicht, als einziges vergessen hätten.

Die folgenden Kapitel sind mit den römischen Ziffern I-III nummeriert und enthalten längere, strophisch gegliederte Gedichte. Zunächst beleuchtet Vilhjálmsdóttir unser Leben zwischen Profitstreben, Verschwendung, Fitnesswahn und der Sehnsucht nach privaten Idyllen, die zusehends brüchig werden. Sie spricht Möglichkeiten an, Fehlentwicklungen und Krisen wirksamer zu begegnen, als uns nur abzulenken, denn

... es ist die frage
wie man in würde seinen teil der verantwortung trägt

Im Kapitel II reist sie ins Heilige Land. Hier, „am anfang der [christlichen] zeitrechnung“, endet ihre selbstbestimmte Freiheit, wenn sie in der überfüllten Geburtskirche „von der menschenmenge vorwärts“ geschoben wird oder ihr Urlaub vom Warten auf Passierscheine und von Willkür bestimmt wird. Denn Schikanen sind allgegenwärtig, „die front“ des geteilten Landes zwischen Juden und Arabern „verläuft mitten durch das tägliche leben“. Ein dreißigjähriger Polizist erklärt ihr gar, „freiheit an sich sei uninteressant“. Vilhjálmsdóttir erlebt eine weitere Eingrenzung ihrer Freiheit, als sie die Klagemauer erreicht, denn hier

ist die menschheit
in zwei ungleiche lager gespalten

nämlich in „männer die den platz beherrschen“ und Frauen, die nur in eine „abgesteckte weiberecke“ dürfen. Für die Lyrikerin Anlass, die Männerzentriertheit der drei großen monotheistischen Religionen und Frauendiskriminierung in Erinnerung zu rufen.

Kapitel III kontextualisiert religiöse und kapitalistische Symbole und Motive und spricht die Gottwerdung des Kapitalismus an, der über alles gestellt wird. Es

wird uns gesagt, dass wir gut beraten sind
die frohe botschaft ohne murren zu empfangen

und die Zurichtung zu einem apathischen Menschen anzunehmen, der seine Freiheit, hoffend auf anhaltende Wohlstandsperioden, freiwillig in den Dienst des Wirtschaftswachstums stellt, ohne Rücksicht auf Folgen und Verluste.

Für Linda Vilhjálmsdóttir mag die Krise in Island ein letzter Anlass gewesen sein, sich mit Gedichten dem Thema der menschlichen Freiheiten zu widmen. Doch gehen ihre Texte über die Engen eines kleinen Landes weit hinaus und weisen auf globale Fehlentwicklungen und ökologische Katastrophen hin. Die Lyrikerin kennt keine letztgültigen Antworten, aber sie zeigt auf, plädiert für ein Innehalten und bringt aus der Mode gekommene Worte wie Güte, Würde und Verantwortung ins Spiel, die sich bei manchen vielleicht als Häkchen ins Denken krallen und wert wären, breit diskutiert zu werden.

Linda Vilhjálmsdóttir
FREIHEIT
Zweisprachige Ausgabe – aus dem Isländischen übertragen von
 Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Elif Verlag
2018 · 120 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-946989-10-3

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