Die Welt war aus den Fugen
Und nun also ein weiterer Schritt, das Aussetzen des bilateralen INF-Vertrags von 1987, mit dem Trump und mit ihm die USA (soll man von Geiselhaft sprechen?) einen vorläufigen Schlussstrich unter das Abkommen mit Russland ziehen, das Abbau und Verbot landgestützter Kurz- und Mittelstreckenwaffen regelt. Schon spricht man von der Wiederkehr des Wettrüstens, schon warnt man, dass Europa jetzt erneut ins atomare Schussfeld gerät. Auch die zunehmenden nationalistischen Tendenzen europäischer Regierungen untergraben die Stabilität des großen Friedensprojekts EU. So kommt das Buch „Vermächtnis einer Jugend“ gerade recht, das kein Weltgeschehen verändern kann und wird, weil Bücher das nun einmal nicht vermögen, aber vielleicht den einen oder die andere Lesende(n) zum Innehalten bewegt, zum Nachsinnen und Denken. Vera Brittain erzählt darin die Geschichte ihrer eigenen Jugend in der Zeit um den 1. Weltkrieg und mit ihr jene einer ganzen Generation junger Menschen, deren Zukunftspläne jäh zerrissen, deren Jugend zerschlagen und deren Leben unwiederbringlich zerstört wurden. Und sie bedient sich dabei einer heutigen, frischen, nie angestaubten Sprache, die wohl auch der Übersetzerin Ebba D. Drolshagen zu verdanken ist. Brittain selbst hat Jahre mit dem Finden einer Erzählperspektive für ihre Erfahrungen gerungen. Ihr ursprüngliches Vorhaben, einen auf Fakten basierenden Roman zu schreiben, verwarf sie, weil ihr die Ereignisse und Menschen zu nahe waren, „um Gegenstand einer distanziert-fiktionalen Rekonstruktion sein zu können“.
Am Ende blieb nur, meine eigene, durchaus typische Geschichte vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse zu erzählen, dies so ehrlich wie möglich zu tun und dabei Gefahr zu laufen, all jene zu brüskieren, für die eine private Geschichte nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte, selbst wenn sie allgemeingültig und für diese Öffentlichkeit überaus relevant sein mochte. Aber mir schien, dass ich nur so meinen Plan ausführen konnte, das Leben eines ganz normalen Menschen im Kontext der zeitgenössischen Geschichte zu schildern und auf diese Weise zu zeigen, wie weltweite Ereignisse und Bewegungen das persönliche Schicksal von Männern und Frauen beeinflussen.
„Testament of Youth“ erinnert an die politischen und persönlichen Verwerfungen der Jahre 1914-1925, lässt Erzählungen, Passagen aus Tagebüchern, Gedichten und Briefen einfließen und erschien als Buch schließlich 1933. Es wurde ein Bestseller und später auch verfilmt. So strahlte BBC 1979 eine fünfteilige Fernsehserie aus, in der die Schauspielerin Cheryl Campbell Vera Brittan verkörperte. 2014 hatte der gleichnamige Film „Testament of Youth“ Premiere auf der Berlinale (Regie: James Kent; Hauptrolle: Alicia Vikander). Nun liegt das Buch mehr als hundert Jahre nach den dramatischen Ereignissen des 1. Weltkriegs erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Doch wer war diese Autorin, die auch als Journalistin arbeitete und insgesamt 29 Bücher veröffentlichte, als deren bekanntestes und erfolgreichstes „Testament of Youth“ herausragte?
Vera Brittain (1893-1970) wurde in eine wohlhabende Mittelstandsfamilie geboren und wuchs mit ihrem knapp zwei Jahre jüngeren Bruder behütet in der konventionellen Enge der englischen Provinz heran. Während für Edward ein Studium an einer Universität vorgesehen war, sollte sie vor allem hübsch und dekorativ zu sein, standesgemäß heiraten und Kinder bekommen und wurde von jeder Eigenständigkeit und Weltkenntnis abgeschottet. Denn die Schulung der Intelligenz war für Frauen nicht vorgesehen, mehr noch, sie wurde behindert. Veras größter Wunsch war es, ihre lückenhafte Bildung zu vervollständigen und ebenfalls an die Universität gehen zu dürfen. In einer zweijährigen Auseinandersetzung mit ihrem Vater errang die Zielstrebige seine Zustimmung, bereitete sich, auf sich allein gestellt, auf die Aufnahmeprüfungen am Frauencollege Somerville in Oxford vor, die sie nicht nur bestand, sondern sie erhielt auch ein Stipendium für das Studienfach Englisch.
Brittain hatte ihre Studien kaum begonnen, als am 4.August 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach. Ihr Verlobter Roland, ein älterer Freund ihres Bruders, einige andere Freunde und zuletzt auch ihr engster Vertrauter, ihr Bruder Edward, ein begabter Musiker und angehender Komponist, traten in den Kriegsdienst und drängten an die Front. Als Roland als erster der jungen Männer nach Frankreich versetzt wurde, stellte Vera ihr hart erkämpftes Studium infrage. Sie fand es unerträglich, in der sicheren Bequemlichkeit von Oxford zu leben, während er im Schützengraben litt. Sie verpflichtete sich als VAD (Voluntary Aid Detachment) und wurde freiwillige Hilfspflegerin des Roten Kreuzes, um ihrem Verlobten nahe sein zu können. Auch als dieser im Dezember 2015 erschossen wurde, arbeitete sie weiter als Hilfsschwester und war in London, auf Malta und im frontnahen Étaples eingesetzt, wo sie täglich mit den Grausamkeiten des Krieges konfrontiert wurde, oft allein verantwortlich für ganze Stationen war und auch deutsche Kriegsgefangene pflegte, was sie lehrte, dass „ein Sterbender keine Nationalität“ hat und „keine Seite das Monopol auf Schlächter und Verräter“.
Zwei ihrer Freunde wurden 1917 ebenfalls Opfer des Krieges und als auch Edward im Juni 1918 in Italien fiel, erstarrte Vera in einer depressiven Erschöpfung. Wie viele andere Frauen fühlte sie sich überflüssig und vom endlosen „Konflikt zwischen persönlichen und nationalen Pflichten“ gebrochen. 1919 kehrte sie schließlich nach Oxford zurück, um Geschichte zu studieren und schließlich mit dem „Master of Arts“ zu graduieren. Sie engagierte sich für den Frieden, arbeitete für die Völkerbund-Union, hielt Vorträge, leitete Diskussionsrunden und bereiste die Länder der ehemaligen Kriegsgegner gemeinsam mit ihrer Freundin Winifred Holtby, die wie sie einige Romane publizierte. Doch sie machte sich keine Illusionen:
Unsere Generation ist verflucht, sie ist verflucht, und der Völkerbund und alles, wofür er steht, nur ein zerbrechliches Spielzeug in den Händen brutaler, steinzeitlicher Kräfte.
1925 heiratete Brittain schließlich George Catlin. Sie gebar zwei Kinder und arbeitete weiter als Autorin und Friedensaktivistin.
Vera Brittain war jedoch nicht nur Pazifistin, sondern engagierte sich früh für Frauenrechte und das selbstbestimmte Leben von Frauen. Schon als Kind erfand sie für ihren Bruder Geschichten und träumte seit ihrem siebenten Lebensjahr von einem Leben als Schriftstellerin. Noch 1913 schrieb sie, dass es so traurig sei, eine Frau zu sein, da Männer so viel mehr Wahlmöglichkeiten hätten, was sie im Leben sein könnten. Lektüren wie Olive Schreiners Buch Die Frau und die Arbeit aus dem Jahr 1911 machten sie endgültig zu einer Frauenrechtlerin, die sich für die Suffragettenbewegung interessierte, klare Vorstellungen von einer ebenbürtigen Partnerschaft hatte und sich
eine Welt vorstellte, in der Frauen nicht mehr die zweitrangigen, unbedeutenden Geschöpfe waren, sondern ebenbürtige und respektierte Gefährten der Männer.
Gegen alle familiären und gesellschaftlichen Konventionen setzte sie mit rebellischem Trotz ihren Weg nach Oxford durch, lernte dort anfangs noch geltende Beschränkungen für Frauen kennen und traf auf Gleichgesinnte, nicht zuletzt Roland, der sich als Feminist deklarierte. Auch ihr späterer Mann engagierte sich für die Gleichstellung der Frau, ihre Ehe war ein ständiges Ringen um Ebenbürtigkeit. Brittain gilt bis heute als engagierte Frauenrechtlerin und eine der berühmtesten Pazifistinnen Englands, die nach ihren Erfahrungen des 1. Weltkrieges ein Leben lang für gerechten Frieden eintrat. 2014 und 2016 ehrten Hamburg und Berlin sie für ihre Haltung, indem sie je eine Straße nach ihr benannten. Ihr Buch gilt als feministischer Klassiker, der nicht zuletzt den aktiven Beitrag von Frauen während des Kriegs in den Mittelpunkt stellt, sie in einen politischen und sozialen Kontext einbettet und analysiert. Es ist ein Werk, das mit über 500 Seiten eine gewisse Herausforderung darstellt, ein authentisches Zeitdokument liefert und eindrücklich vor dem Spiel mit scheinbar einfachen politischen Lösungen durch Kriege warnt, mit denen auch heute noch manche Staatsmänner liebäugeln. Brittain hingegen sprach sich stets für „die Disziplinierung des stärksten menschlichen Triebs“ aus, der „Gier nach Besitz“, setzte sich für eine gerechte Sozialpolitik ein und warnte eindrücklich vor einer Welt
der Einflussreichen, denen der Krieg in die Hände spielte und die so mächtig waren, dass sie Politiker zwingen konnten, zum Nutzen weniger die unterschiedslose Vernichtung von Millionen anzuzetteln.
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