Ein großer Philologe liest einen großen Dichter
Wenn jemand felsenfest behauptet, ein literarisches Werk sei unerschöpflich, nicht auszudeuten, ja vielleicht sogar „unergründlich“, klingt das in manchen Ohren zurecht danach, Philologie sei eine ewige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Es wird kaum jemand widersprechen, dass die großen Romane, Dramen und Gedichte mehr sind als ein bloßes Zeitdokument; dass wir nicht ganz sicher alles ganz richtig verstehen, sobald wir einfach so viel über ein Werk wissen, wie nur geht. Genauso wenig scheint man einem literarischen Werk gerecht zu werden, indem man schablonenhaft die gerade aktuelle Theorie Nr. 1 darauf appliziert; die Werke, vielleicht sogar ihrer „Größe“ wegen, einfach für alles herhalten können sollten. Ein neuer Blickwinkel macht den Text dann im schlimmeren Fall einfach nochmal irgendwie besprechbar, spricht aber nicht mit ihm. Beide Möglichkeiten nehmen Dichtung nicht ernst, sondern reduzieren sie auf einen Eintrag ins Geschichtsbuch oder eine Probe aufs Exempel für eine ohne sie erdachte Theorie. Man tritt nicht mit der Dichtung in Dialog. Wenn man das aber tut, lassen sich im Vorgang der Lektüre verbindliche Zusammenhänge herstellen.
Werner Hamacher, der 2017 starb, bewahrte sich eine große Distanz zu allen Selbstverständlichkeiten, die die Literaturwissenschaft als Disziplin im schnelllebigen akademischen Betrieb immer wieder bereit ist vorzugeben, um eine Legitimation dessen zu schaffen, was sie eben gerade macht. Nachdem letztes Jahr bereits postum bei S. Fischer gesammelte Aufsätze in dem Band „Sprachgerechtigkeit“ veröffentlicht wurden, folgt nun in der Roten Reihe des Klostermann-Verlags das Buch „Keinmaleins. Texte zu Celan“. Der Band umfasst nicht alle Texte Hamachers zu Celan. „Kein Schweigeasyl — Bestechlichkeit ist keine Hoffnung“ erschien im genannten Fischer-Band, „Die Sekunde der Inversion“ in Hamachers Suhrkamp-Buch „Entferntes Verstehen“. Die in „Keinmaleins“ enthaltenen Texte sind, mit Ausnahme des Aufsatzes „Versäumnisse. Zwischen Theodor W. Adorno und Paul Celan“, bereits der Öffentlichkeit zugänglich gewesen: allerdings in entlegeneren Publikationen, teils nur als Übersetzungen — es ist bekannt, dass Hamacher dazu neigte, Texte kurz nach dem Vortrag oder Abdruck zu verwerfen, unzufrieden mit ihnen zu sein. Trotzdem ist der rund 250 Seiten starke Band mit Sicherheit eine der lesenswertesten Publikationen der letzten Jahre, die mit Gedichten zu tun hat.
Denn Hamacher nimmt Celan ernst. Für ihn sind die oft als „hermetische Lyrik“ abgestempelten Gedichte kein inspirierender Rätselspruch, sondern ein Denken, das um die philosophischen Begriffe weiß, sich aber auf sie nicht (mehr) verlassen kann. Hamacher verbindet, da kann man dem Klappentext nur zustimmen, „solideste germanistische Philologie und deutsch-französische Philosophie“. Über Briefwechsel, Notizen Celans in Büchern, verschiedene Gedichtfassungen weiß er bestens Bescheid und zieht sie für seine Interpretationen heran. Aber Hamacher, ein Schüler Jacques Derridas, ist gleichfalls in der Geschichte der abendländischen Philosophie von der Antike bis ins zwanzigste Jahrhundert bestens bewandert.
Der Band eröffnet, nach einer „Vor-Rede“ Jean-Lucy Nancys, mit „HÄM. Ein Gedicht Celans mit Motiven Benjamins“, in dem der Philologe u. a. Walter Benjamins Kafka-Essay, Kafkas „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“, Rilke, Gershon Sholem, Martin Buber zum Verständnis der sieben Zeile fruchtbar macht. Er begnügt sich nicht damit in „Moorboden“, „Ohnebild“, „Flintenlauf Hoffnung“ Beispiele absoluter Metaphern zu deklarieren, sondern verortet ihre Herkunft in Celans Lektüren und legt offen, wie sich Celans Schreiben zu Geschichtsphilosophie verhält.
Der zweite Aufsatz „Versäumnisse“ beschäftigt sich eingehend mit der Korrespondenz Adornos und Celans und ihrer versäumten Begegnung in Sils-Maria. Seine kritische, genaue und anerkennende Lektüre von Adornos Celan-Deutung ist vielleicht, bedenkt man die „Interpretationskämpfe“ um den Dichter, besonders kontrovers. Er begründet das Versäumnis aus Adornos Haltung, ja Erwartung gegenüber Celan, dessen Dichtung, Hamacher zufolge, für Adorno immer nur hätte sein Denken einholen und bestätigen können. Für den Frankfurter Philosophieprofessor ist, so Hamacher, der
„Wahrheitsgehalt der Dichtung ein Negatives, weil das Geschehen der Geschichte nicht mehr zur Erfahrung werden und keine Geschichte des Erfahrenen ergeben kann.“
Hamacher meint hingegen:
„Die Selbst-Entfernung — und darin die Selbst-Begegnung — der Sprache, die sich in Celans Dichtung ereignet, reicht hinter die Geschichte und vor die Sprache ebenso zurück wie sie über diese hinausreicht. (…) [Celans Sprache ‚des Toten von Stein und Stern‘ ist eine Sprache], die in allem Sprechen als stummer Vorbehalt gegen das Sprechen, in jeder Sprache als Sprach-Versagen mitspricht. (…) Noch vor jedem aktuellen Dialog muß diese Vor-Sprache Für-Sprache für ein Sprechen sein, das einen Anderen erreichen könnte.“
Hamacher schreibt auch über Celans Begegnung mit Heidegger auf dem Todtnauberg, bringt „Celans Reimklammer und Husserls Klammern“ in Verbindung. Im letzten Aufsatz, der in besonderem Maß die Biografie Celans betrifft, geht es um den Begriff der Suggestion, Jean Daives analytischen Roman „Unter der Kuppel“, in dem er von der Freundschaft zu Celan schreibt und die berühmte „Goll-Affäre“, in der Claire Goll Paul Celan vorwarf, Gedichte ihres verstorbenen Ehemanns Yvan plagiiert zu haben. Hamacher gelingt es in seinem Text, nicht anmaßend, spekulierend, hagiographisch über den Selbstmord Celans zu schreiben und aus der „Infamie“, die ihm widerfuhr, eine Forderung abzuleiten: Eine Zukunft offen zu halten, die mit Kunst und Dichtung über Kunst und Dichtung hinausgeht.
Man kann die Interpretationen mit großem Gewinn lesen, auch ohne tiefere Kenntnisse der philosophischen Werke. Hamacher war Professor in Baltimore und Frankfurt, damit in gewisser Weise auch Lehrer. Der Einfluss der Dekonstruktion auf sein Denken zeigt sich, kurz gesagt, vor allem darin, dass er ein unwahrscheinlich aufmerksamer, geduldiger, genauer Leser ist. Kurzum: Man kann aus diesen Texten zu Celan sehr viel lernen. Die dichten Argumentationen haben einen klaren und dabei eigentümlich eleganten Stil, der wohl das Resultat einer großen Sorge um Fragen der Darstellbarkeit des Denkens ist. Wer an kulturwissenschaftliche Texte gewöhnt ist, die sich ihrer Richtigkeit via Name-Dropping versichern und am laufenden Band betonen, ein Vorschlag, Interpretationsansatz etc. zu sein, auf den mögen Hamachers Aufsätze apodiktisch wirken. Aber im Gegenteil: Seine genauen Lektüren, gegen die begründeter Widerspruch schwer möglich scheint, zeigen, wie ein Denken radikal danach strebt, die „Zukunft offen zu halten“ und Vorbestimmungen in Frage stellt.
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